Die fliegende Raupe

von Gilad Shadmon

Übersetzung von Peter Staaden

 

Es war einmal, vor sehr langer Zeit, eine Familie von Raupen, die auf einem sehr alten Maulbeerbaum lebte. Sie krochen aus ihren Eiern heraus, aßen während ihres Lebens viele Blätter, und vollendeten es, in dem sie sich in eine Puppe verwandelten. Diese Raupen hatten eine kluge Weltsicht, aber sie konnten sich nicht vorstellen, wo die Eier herkamen, denen sie entsprungen waren. Sie nahmen an, dass sie aus diesen Eiern stammten, denn sie sahen, wie die jungen Raupen herausschlüpften. Da die Schmetterlinge aber nachts ihre Eier ablegen, konnten die Raupen nicht wirklich wissen, woher sie kamen.

Trotz allem hätten die Raupen, selbst wenn sie nachts hätten sehen könnten, die Schmetterlinge nicht wahrgenommen, denn sie können nur nach unten schauen, in Richtung des Blattes, welches sie gerade verzehren wollen. Zudem bevorzugen es die Schmetterlinge, über den Blättern zu fliegen, und sie nur selten mit den Enden ihrer Beinchen zu streifen.

Woher stammten die Eier, gibt es ein Weiterleben nach der Verpuppung, diese Fragen interessierten keine große Anzahl von Raupen. Sie waren meistens damit beschäftigt, die saftigsten und grünsten Blätter zu verspeisen. Im allgemeinen beschränkten sich ihre Unterhaltungen darauf, wie man die äußersten Äste erreicht, und wo die grünsten und wohlschmeckensten Blätter wachsen. Nach ihrer Vorstellung ist man die glücklichste aller Raupen, wenn man es geschafft hat, das entfernteste und grünste Blatt zu erreichen.

Manchmal mussten die Raupen den Maulbeerbaum verlassen und herabsteigen, um dann eine mühsame Reise zu unternehmen: hinüber zum nebenstehenden Baum, denn bei den Nachbarn sind die Blätter immer viel grüner. Aber nach einer kurzen Weile waren sie glücklich zu ihrem alten guten Baum zurückzukommen, den Geschmack von früher wiederzufinden, den so sehr gemochten Geschmack ihrer Väter, und Großväter.

In Wahrheit hatten die Raupen nur vor zwei Dingen Angst: vor heftigen Winden und gierigen Vögeln. Ein plötzlicher Windstoß konnte stark an den Blättern und feinen Zweigen des Baumes rütteln; eine junge Raupe ohne Erfahrung, die noch nicht gelernt hat, sich richtig festzuklammern, so wie es eigentlich notwendig ist, würde plötzlich durch die Luft katapultiert und direkt auf die Erde fallen.

Nach einem solchen Unfall und Traumatismus gelang es den wenigsten Raupen, mit letzter Kraft zu ihren Familien zurückzukehren. Jedoch waren sie danach nie mehr die selben: sie wirkten befremdlich, einige sprachen von fliegenden Umrissen, die sie während ihres Fallens gesehen hatten, und die sie "Schmetterlinge" nannten.

Sie konnten wunderschön die Form und die Farbe dieser Schmetterlinge beschreiben, jedoch niemand unter den Raupen, einschließlich der ältesten, verstand sie richtig. Anstatt sich ihrer Hauptaufgabe zu widmen und zu kriechen, begannen sie, ihren Blick nach oben zu erheben und so befremdliche Fragen zu stellen, wie: "Das Ei, wie ist es gemacht?", "Was geschieht den alten Raupen nach ihrer Umwandlung zur Puppe?" usw. Deshalb bezeichneten sie die anderen Raupen als fliegende Raupen.

Manchmal erschienen Raubvögel, von woher, wusste man nicht. Es kam vor, dass eine Raupe in aller Ruhe das Ende eines besonders grünen Blattes mit einem Kameraden verspeiste, und plötzlich ohne jegliche Vorwarnung fasste ein gewaltiger Schnabel den Kameraden um den Hals und nahm ihn in Richtung des Himmels mit. In diesem Fall war es nicht, wie bei den Raupen, die durch die Windstöße mitgenommen wurden. Nein, man konnte sicher sein, jene nicht mehr wiederzusehen, die in das Land der Vögel getragen wurden, von wo niemand, sogar die kräftigste Raupe nicht mehr zurückkommt.

Der einzige Schutz, den die Raupen gegen die Raubvögel kannten, war nur präventiv: die Alten lehrten die Jüngeren, nicht aufzufallen: "Du kannst auf der Unterseite des Blattes bleiben" sagte die Alte zu ihrem jungen Schüler "dort werden dich die Vögel nicht entdecken, aber du wirst bei dem ersten Windstoss herunterfallen."

"Die zweite Regel, an die du dich immer erinnern musst, ist, dass du an den Enden der Zweige sichtbarer bist, bleibe also in der Gruppe, in der Mitte des Baumes."

"Und, wenn ich bis zum Gipfel gehen möchte, um ein gutes kleines grünes Blatt zu probieren, ein ganz frisches?" erkundigte sich der Schüler. "Du musst wissen, dass du in diesem Fall einer sehr ernsten Gefahr ausgesetzt bist" antwortete die Alte, "du könntest abstürzen oder sogar gefressen werden."

"Die dritte Regel ist" sagten die Alten, "dass man langsam vorrücken muss. Kein Blatt ist jemals einer Raupe entkommen. Seit euch immer bewusst: "Wer schnell geht, kann schnell das Leben verlieren".

Avri schlüpfte aus einem grauen Ei auf die Welt, und das war schon ein sicheres Zeichen für zukünftige Probleme. Die Mehrzahl der Raupen, die aus grauen Eiern zur Welt kamen, wurden später zu keiner Puppe. Und es ist eine Tatsache, dass Avri nach dem er auf die Welt gekommen war, als erstes fragte: "Welches ist der kürzeste Weg, um die Spitze zu erreichen?" Die Alten haben so gut wie möglich versucht, ihn zu bremsen, aber leider vergeblich. Er wollte so schnell wie möglich groß werden, deshalb machte er so ziemlich alle Dummheiten, die eine Raupe so anstellen kann.

Er rückte schnell vor, er aß die Blätter von der Oberseite. Er besaß ganz einfach nicht die Zeit, auf ihrer Unterseite zu rutschen. Ständig hatte er nur ein Ziel vor den Augen: das oberste Ende der Baumkrone zu erreichen. Alle anderen Raupen, die seinen Weg kreuzten, rieten ihm langsam zu machen, sich zu beruhigen, sich auszuruhen und sich um sich selbst zu kümmern, doch er hörte nicht auf sie. Nach zwei ein halb Wochen hatte er fast die Krone erreicht, und schritt von Zweig zu Zweig fort. Seine Beine waren fest, seine Kiefer waren stark geworden, und die Klauen hatten sich geschärft, aber trotzdem war er mager, weil er sich nicht die Zeit nahm, richtig viel zu essen, und weil er viel Energie für seinen erschöpfenden Marsch verbrauchte. Je weiter er aufstieg, desto mehr erschien im das Licht der Sonne, und das ermutigte ihn.

Die Blätter wurden immer grüner und ließen Stücke blauen Himmels erscheinen. Er hatte viele Raupen gesehen, die in der Mitte des Baumes angekommen waren und dort blieben, etwas weniger Raupen erreichten das höhere Viertel und waren auch damit zufrieden, noch weniger hatten fast das Ende der Baumkrone erreicht und waren dort angehalten. "Ihr habt doch so viel Energie verbraucht" fragte sie Avri "weswegen macht ihr nicht noch eine kleine Anstrengung, um zu schauen, was es auf der Spitze gibt?".

Als Antwort hörte er alle möglichen Rechtfertigungen: "Ich habe keine Kraft mehr", "Ich habe Hunger", "Hier sind die Blätter schon sehr viel grüner als jene, die ich sah" und "Der Baum hat kein Ende, er wächst schneller als wir" und noch viele andere Ausflüchte. Als er das höchste Blatt erreichte, traf er dort eine graue, gut genährte Raupe, die damit beschäftigt war, das Ende eines Blattes abzunagen.

"Ist es gestattet, mich dazuzugesellen", fragte er höflich. "Natürlich" antwortete ihm die Raupe, währen sie weiter an dem Blatt knabberte. Das war ihr letztes Wort, und Avri sah nur noch, wie sie wehrlos zwischen den zwei Zangen eines dunklen Schnabels davongetragen wurde. Da wurde Avri von solch einer starken Angst gepackt, dass seine starken Beine ihn nicht mehr festhalten konnten. Die Legende besagt, dass der Schnabel das Blatt, auf dem Avri saß, herausgerissen hat, und es somit seinen schwindelerregenden Fall verlangsamte und abbremste.

Auf der Erde angekommen, rappelte er seine verbliebenen Lebensgeister zusammen, um sich bewusst zu werden, was gerade passiert war. Sein Sturtz hatte nur einige Sekunden gedauert, aber während dieser Zeit hatten sich eine Menge außergewöhnlicher Dinge ereignet, die seine Angst zum Verschwinden brachten, ihm sogar im Gegenteil Vergnügen bereiteten.

Am Anfang sah er die anderen Raupen, die mit tief gesenktem Kopf damit beschäftigt waren, Blätter zu verzehren. Er hatte geschrien, um gesehen zu werden, aber niemand hatte ihn gehört. Der Lärm der nagenden Kiefer erstickte jeden anderen Laut. Dann sah er schöne mehrfarbige Kreaturen, die neben den Raupen und zwischen den Blättern hin und herflogen. Sie drückten sich gegeneinander oder legten Eier. "Das sind wahrscheinlich Schmetterlinge" dachte er.

Er hätte schwören können, dass er gehört hätte, wie sie untereinander sprachen, oder genauer gesagt, untereinander sangen, und dieser Gesang war überaus angenehm zu hören. Er begann zu denken, dass er wohl gestorben war, und in der anderen Welt sei, aber er fühlte noch diesen fürchterlichen Schock, und hatte sich deshalb zum Ausruhen, auf einen am Boden liegenden Blätterteppich ausgestreckt. Das ließ ihn wieder in die Wirklichkeit zurückkehren, die er soeben für einige Sekunden verlassen hatte: nun war er nur noch eine einfache, kleine, graue Raupe.

Nach einer erschöpfenden Reise, die eine weitere Erzählung wert wäre, kehrte Avri in die Gesellschaft der Raupen zurück. Sehr schnell begriff er, dass er nichts Gemeinsames mehr mit den anderen hatte. Die grünen Blätter interessierten ihn nicht mehr, sogar die Baumkrone war eine Etappe, die zur Vergangenheit gehörte. So beschloss er, Schmetterling zu werden. Man sagte ihm: "Seitdem du gefallen bist, stimmt irgend etwas nicht in Deinem Kopf, lass uns in Ruhe und webe Dir eine Puppe!"

Diese Worte stellten in der Welt der Raupen eine Beleidigung dar, und Avri gehörte nicht zu denen, die Worte auf die leichte Schulter nahmen, da sie ihm auch im Zorn entgegengebracht wurden. So begann er, das Phänomen der Verpuppung zu untersuchen. Er erinnerte sich, dass die Schmetterlinge sehr stark den Raupen ähnelten, aber dass sie Flügel hatten. Könnte es sein, dass es geflügelte Raupen sind?

Eine Sache war sicher und vom Beginn der Nachforschungen an klar, keiner hatte es bisher für nötig gehalten, ihm diesen Vorgang irgendwie zu erklären. Es interessierte ganz einfach niemanden. Wenn es jemand mit guten Absichten untersucht und überprüft hätte, wäre bestimmt bemerkt worden, dass von den Raupen innerhalb der Puppe keine Spur zurückblieb. Wo gingen sie also hin? Könnte es denn sein, dass sie ganz einfach nur so verschwinden?

Avri beschloss, einer alten Raupe zu folgen und den gesamten Vorgang zu untersuchen. Er beobachtete, dass sie mit der Zeit immer größer und größer wurde, immer mehr ermüdete, und sprach, dass sie genug davon habe, Blätter zu essen, dass, selbst wenn man ihr ein gutes, kleines frisches Blatt vom Ende des Baumes brächte, es sie nicht mehr reizen würde. Dann hörte er sie endlich sagen – worauf er schon so lange gewartet hatte -, dass sie zur Puppe werden wolle.

"Es ist ein ganz natürlicher Vorgang" sagte die alte Raupe, und sie begann, damit ein Tuch zu weben. "Tue mir einen Gefallen" bat Avri, "wenn Du nach der Verpuppung ein Schmetterling wirst, kommst Du mich besuchen, einverstanden?" "Hör’ doch mit diesen Dummheiten auf", antwortete ihm die Raupe, "du und ich, wir wissen, dass die Puppe das Ende ist." Aber Avri flehte sie immer wieder an, bis sie schließlich einverstanden war, damit er endlich aufhörte, sie zu belästigen, während sie ihre Puppe weiterwob. Nach zwei Tagen war die Raupe durch einen schönen runden Kokon bedeckt, bis sie schließlich ganz in seinem Inneren verschwand.

Aber Avri gab nicht auf. Der Eigensinn war in ihm bereits durch seine grauen Gene vorherbestimmt, und er nutzte diese Qualität bis zum Schluss. Tage und Nächte verbrachte er bei der Puppe, und lehnte es ab, den abschreckenden Reden seiner Freunde zuzuhören, die versuchten, ihn davon zu überzeugen, wieder in ein normales Leben zurückzukommen. "Ich habe überhaupt keine Lust und Appetit, mir Blätter zu erträumen, wenn ich mein Leben in einer Puppe beenden muss, wenigstens will ich wissen, was aus mir wird".

Er schlief praktisch nicht mehr, denn er befürchtete, dass etwas passieren könne, während er ruhte. In den dunklen Nächten, als die Sicht stark begrenzt war, schlummerte er ein wenig, indem er sich auf die Puppe stützte, um geweckt zu werden, wenn diese auch nur die geringste Bewegung machte. Und genau dies geschah. Gerade, als die ersten Zeichen von Hoffnungslosigkeit sich in ihm breit machten, als der Hunger ihm seinen leeren Magen verdrehte, begann die Puppe sich zu bewegen.

Dieses Schauspiel brachte ihm die Hoffnung zurück. Nach und nach begann sich die Puppe langsam zu spalten, bis ein Riss sich gänzlich auftat... und ein kleiner schwarzer Kopf daraus hervorschaute. Einige Sekunden rüttelte es so stark, dass Avri einen Sprung rückwärts machte. Die Puppe hatte sich in zwei Teile geöffnet, und zwei farbige Flügel, die genauso aussahen wie jene, die er während seines Absturtzes gesehen hatte, entfalteten sich majestätisch. Sie machten eine Bewegung in der Luft und brachten einen prächtigen Schmetterling Stück für Stück, vor dem Hintergrund des blauen Himmels, zum Vorschein. Avri fuhr erschreckt zusammen und sein Herz bebte.

Er sah um sich herum, um diesen Anblick mit den anderen Raupen zu teilen, aber niemand bemerkte, was sich gerade ereignet hatte. Sie waren alle damit beschäftigt, die Blätter zu verzehren, sich von den Vögeln zu verstecken und neue grüne Blätter zu suchen. Er hätte "Hallo, schaut doch, ich habe Recht gehabt!" schreien können, aber er wusste, dass niemand es hören würde. Die Tage des sehr angespannten Wartens, die ganze Aufregung sowie die Enttäuschung, die auf die lange Einsamkeit zurückzuführen war, quälten ihn. Er hörte nun einfach auf, sich am Blatt festzuhalten, hob seine Beine nach vorne, streckte sie nach oben, so als ob er um Hilfe bitten würde, und er begann zu fallen, gänzlich gefühllos gegenüber dem, was ihn umgab.

Als er wieder bewußt wurde, verstand er nicht sofort, wo er sich befand. Der Ton eines fröhlichen Gesangs erinnerte ihn an den ersten Sturz, aber dieses Mal war er sehr viel näher, klarer und viel wahrnehmbarer. Die Blätter des Baumes glitten mit hoher Geschwindigkeit vor seine Augen vorüber, aber zu seinem großen Erstaunen, bewegten sie sich von links nach rechts, und nicht von oben nach unten. "Vielleicht, hat mich ein Vogel mitgenommen" dachte er, "aber das stimmt nicht", unterbrach er sich selbst.

Er sah hinter sich und blickte in Augen, die ihm sehr bekannt erschienen. Aber das sind doch die Augen der alten Raupe, die sich in eine Puppe verwandelte. "Ich hatte es Dir versprochen, ich halte mein Wort" sang sie, und lächele. "Warum singst du?" fragte er, und "wo bin ich"? "Ich singe, weil es jetzt meiner Natur entspricht, du bist zwischen meinen Beinen, wir fliegen zusammen".

Avri hatte es schwer, Überblick zu bekommen und die Situation, die sich ihm eröffnete, zu erfassen. Der Schmetterling stieg immer höher und höher, und zum ersten Mal in seinem Leben sah er den Maulbeerbaum von oben. Er sah die ganz grünen und die abgenagten Bereiche, das Zusammenströmen der Raupen, einige in Richtung der Baumkrone, und er sah sogar die benachbarten Bäume. "Wo möchtest Du, dass ich dich ablege?" sang der Schmetterling. "Wer möchte abgelegt werden" antwortete ihm Avri, indem er die Melodie des Schmetterlings wieder aufnahm.

Sogar, als sie auf einen, der am meisten bevölkerten Zweige herabflogen, bemerkte sie niemand. Ein alter Schmetterling hatte sich in der Nähe von ihnen niedergelassen, um Eier zu legen.

"So passiert es also?" fragte Avri.

Der Schmetterling sah ihn lächelnd an, sein Gesicht strahlte vor Glück: "Was habe ich nur für ein großes Glück, mit einer Raupe zu sprechen!".

"Wie meinst Du das ?" entgegnete Avri.

"Ich habe noch nie mit Raupen gesprochen" antwortete er ihm, "das heißt, seit dem Zeitpunkt, wo ich aufgehört habe, selbst eine Raupe zu sein".

"Weswegen tragt ihr nicht alle Raupen über dem Baum?" sprach Avri sehr interessiert.

"Es gibt nichts, was wir uns mehr wünschen würden, aber wir können es nicht tun".

"Aber wie konntet ihr es denn für mich machen?" erwiderte Avri, ohne Ruhe zu geben.

"Weil Du es wolltest." sagte er ihm "Du hast Deine Beine hochgehoben und nach oben gestreckt, weil es genau das war, was du wirklich wolltest, und nichts anderes. Deshalb konnte ich dich an den angehobenen Beinen nehmen, erinnerst Du Dich daran?" fügte die ehemalige alte Raupe hinzu, und machte einen Flügelschlag.

Seit diesem schicksalhaftenTag flog Avri lange lange Zeit mit den Schmetterlingen umher. Nach und nach lernte er mehrere ihrer Melodien, und er machte sich zahlreichen Freunde unter ihnen. Von jedem lernte er etwas Neues aus der Welt der Schmetterlinge, und er genoss dabei ein unermessliches Vergnügen.

Sogar, als er wieder begann Blätter zu nagen, fand er an ihnen einen Geschmack, den er bis dahin nie kannte. Er gab ihm den Namen "Krönender Geschmack" oder "Sinn des Lebens". Jetzt, zum ersten Mal in seinem Leben, sah er in dem eintönigen Abnagen der Blätter einen Sinn. Er wusste, dass er, wenn er viel äße, viel Kraft für eine lange Zeit des Fliegens hätte, und so den Schmetterlingen, die mit ihm im himmlischen Gewölbe spazierten, ein riesiges Vergnügen bereiten würde. Er genoss das Vergnügen, das er ihnen bereitete, und sein Glück hatte keine Grenzen mehr.

Allerdings began er mit der Zeit, sich immer mehr für seine Brüder die Raupen zu beunruhigen. "Wenn sie nur wüssten, was ihnen entgeht" dachte er bei sich, indem er den Kopf hochhob und nach den Flügeln der Schmetterlinge ausschau hielt. "Würden sie nur zu knabbern aufhören, um die unaufhörlichen Gesänge zu hören, sie würden ihre Beine nach oben ausstrecken, fest davon überzeugt, nicht fallen zu können. Denn mit Sicherheit würde ein Schmetterling sie auffangen, bevor sie auf den Boden fielen". Er fühlte, dass seine Einsamkeit unter den Artgenossen mit dem Glück und der Freude wuchs, die ihm die Welt der Schmetterlinge verschaffte.

"Ich bin sicher, dass man es Ihnen erklären kann" dachte er aus tiefstem Seelengrund, und er beschloss, sich einem neuen Unternehmen hinzugeben: den Raupen die Welt der Schmetterlinge zu erklären. "Vielleicht bin ich eine besondere Raupe, aber ich bin sicher, dass es noch mehr von meiner Sorte gibt, Suchende, die nicht wissen, was sie wollen, fehlgeleitet wie ein Blinder im Nebel. Ich werde ihnen den Weg zeigen. Beleidigen wird es niemanden, aber wenigstens habe ich versucht, jenen zu helfen, die Hilfe suchen."

Die Zeit war nun auch für Avri gekommen, sich in eine Puppe zu verwandeln, in aller Stille, und in dem Bewusstsein, dass er das Ziel seines Lebens als Raupe verwirklicht hatte. Als sein Erbe hinterließ er präzise Karten von der Struktur des Baumes und des Waldes, Pläne über die kürzesten Wege zur Baumkrone, eine detaillierte Anatomie des Aufbaus der Schmetterlinge, sowie den Ablauf des Eierlegens und des Schlüpfens und sogar Karten, der besonders zum Verzehr empfohlenen und geschützten Bereiche.

Er wusste, dass eine Raupe, wenn sie mit einem mächtigen Verlangen zu fliegen geboren würde, die von ihm hinterlassenen Informationen gut nutzen könnte, selbst dann, wenn die Mehrzahl der Raupen die Karten nur gebrauchen würden, um die grünsten und besten Blattzonen schneller zu finden.

Eine geringe Anzahl der Raupen ging mit Hilfe der Anleitungen auf die Suche nach der Baumkrone. Noch weniger von ihnen versuchten mit seinen Arbeiten die Struktur des Eies und der Puppe zu untersuchen, und nur vereinzelte seltene Unikate stellen sich die Frage: "Woher kommen seine so einfachen Lösungen für solch komplexe Probleme? Woher hatte er den Sinn für diese herrlichen Gesänge erhalten, die er komponierte? Wie können auch wir aus der Quelle dieser Erkentnisse schöpfen und teilhaben?"

Avri war der Erste der fliegenden Raupen seiner Dynastie. Viele, die nach ihm zur Welt kamen, sind einen ähnlichen Weg gegangen, und jeder hat zu den Kenntnissen seiner Vorgänger etwas hinzugefügt. Sie haben die Welt der Schmetterlinge für jene beschrieben, die nach ihnen kommen würden. Sie wussten bereits, dass die Schmetterlinge die Raupen mehr lieben, als diese es sich jemals vorstellen können.

Sie wussten ebenso, dass der Tag kommen würde, an dem alle Raupen in die Lüfte fliegen würden, und die Schmetterlinge ihnen dabei helfen werden. Dann wäre der Höhepunkt der Vollendung und der Freude in der Welt der Schmetterlinge und in der Welt der Raupen erreicht. Auf diesen Tag warteten sie, und versuchten durch all ihre Möglichkeiten, ihn näher zu bringen.

 

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