Die Freiheit

von Rabbi Yehuda Ashlag (Baal HaSulam)

 

 

„In Stein gemeißelt (charut)”

Lies nicht  charut   („gemeißelt”),

sondern vielmehr cherut   („Freiheit”).

Um zu zeigen, dass sie vom Engel des Todes befreit sind.

(Midrasch Schmot Raba, 41)

(Anm. des Übersetzers: im Hebräischen werden Vokale nicht geschrieben, daher kann man das Wort auf beide Arten aussprechen)

 

Diese Worte müssen geklärt werden. Denn wie hängt Empfangen der Tora, d.h. des Lichtes mit jemandes Freiheit vom Tod zusammen? Darüber hinaus, nachdem sie einmal einen unsterblichen, ewigen Körper durch das Empfangen des Lichtes erhalten haben - wie konnten sie ihn wieder verlieren? Kann sich denn das Ewige wandeln und abwesend sein? 

 

 

Die Freiheit des Willens

Um diesen hehren Begriff – “Freiheit vom Engel des Todes” - zu verstehen, müssen wir zuerst abklären, wie dieser Begriff von den Menschen üblicherweise verstanden wird.

Es herrscht die allgemeine Ansicht, dass Freiheit ein Naturgesetz ist, das für alle Lebewesen gültig ist. So können wir beobachten, dass Tiere, die in Gefangenschaft geraten, sterben wenn ihnen die Freiheit genommen wird. Und das ist ein klarer Beweis, dass jegliche Versklavung eines Geschöpfes von der Vorsehung nicht akzeptiert wird. Nicht umsonst hat die Menschheit in den letzten Jahrhunderten dafür gekämpft, ein gewisses Maß an Freiheit für den einzelnen zu erreichen.

Dennoch bleiben die Vorstellungen, die sich mit diesem Wort –„Freiheit” - verbinden, unklar. Und wenn wir tiefer in die Bedeutung dieses Wortes eintauchen, bleibt beinahe nichts übrig. Und wenn man Freiheit des Individuums einfordert, nimmt man zuvor an, dass ein Individuum in sich diese Eigenschaft, die Freiheit genannt wird, besitzt und aus eigener, freier Entscheidung und Wahl heraus handeln kann.

 

Genießen und Leiden

Wenn wir jedoch die Handlungen eines Individuums genauer betrachten, entdecken wir, dass die Handlungen zwangsläufig erfolgen. Der Mensch wird zu seinen Handlungen genötigt und hat keine Entscheidungsfreiheit. In gewisser Weise ist der Mensch wie ein Eintopf, der am Herd dahinköchelt; der Eintopf hat keine andere Wahl als zu köcheln. Die Vorsehung hat das Leben mit zweierlei Konsequenzen versehen: Genuss und Leid. Die Geschöpfe haben nicht die Freiheit zwischen Genießen und Leiden zu wählen und den einzigen Vorteil, den der Mensch gegenüber dem Tier hat, ist, dass er ein entferntes Ziel anstreben kann. Das heißt im Hinblick auf den in der Zukunft zu erwachsenden Genuss bzw. Vorteil ist der Mensch einverstanden, dafür ein gewisses Maß an Leiden zu erleiden.

Bei einem solchen Denken liegt jedoch nichts anderes als eine rein kaufmännische Berechnung vor: Anzunehmen, dass die Zukunft Wohlbefinden und Freude bringt, scheint besser zu sein als gegenwärtig zu ertragender Schmerz und Pein. Der Schmerz wird wie bei einer kaufmännischen Kalkulation von dem zu erwartenden Genuss abgezogen und ein gewisser Restbetrag bleibt übrig.

Jedoch, einzig und allein Freude wird ausgeströmt! Und so passiert es manchmal, dass einer leidet, weil man nicht den erwarteten Genuss, d.h. den erhofften Restbetrag im Vergleich zum dafür erlittenen Leid erhalten hat, weshalb die Rechnung ein Minus ergibt. Das Handeln entspricht genau dem wie Kaufleute es tun.

Aus all dem folgt, dass in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht. Und wenn dies der Fall ist, besteht überhaupt keine Entscheidungsfreiheit. Sondern es gibt nur eine anziehende Kraft, welche jemanden zu einem vorübergehenden Genuss in welcher Form auch immer hinzieht und vor schmerzvollen Umständen fliehen lässt. Unter Zuhilfenahme dieser zwei Kräfte leitet die Vorsehung den Menschen wohin immer sie es wünscht, ohne nach der Meinung des Menschen zu fragen.

Dem nicht genug – auch der Charakter des Genusses und sein Nutzen kann in keiner Weise vom freien Willen des Einzelnen bestimmt werde, sondern hängt von den Wüschen der anderen ab. Diese wollen etwas Bestimmtes. Zum Beispiel: Ich sitze, ich kleide mich, ich spreche, ich esse. Alle diese Dinge tue ich nicht auf die eine bestimmte Art und Weise, weil ich mich entschieden habe auf diese Art zu sitzen, zu sprechen, zu essen oder mich zu kleiden. Ich tue diese Dinge auf diese bestimmte Art, weil die anderen wollen, dass ich in dieser Weise sitze, mich kleide, spreche und esse. All dies geschieht in Anpassung an die Wünsche und den Geschmack der Gesellschaft und nicht aufgrund meines eigenen freien Willens.

Ferner handle ich in den meisten Fällen entgegen meinem Willen. Denn ich fühle mich viel wohler, mich in meinem Benehmen anzupassen als eine Bürde zu tragen. Bloß – ich bin auf Schritt und Tritt in den Gewohnheiten und Sitten der anderen, die die Gesellschaft bilden, gefangen.

Wenn dem so ist, so sagt mir bitte, wo ist meine Freiheit zu wählen und zu entscheiden? Andererseits, wenn wir annehmen, dass wir keine Freiheit zu wählen haben, dann sind wir wie Marionetten, funktionieren und handeln äußeren Kräften gemäß, die bestimmen wie und was geschieht. Das bedeutet, dass wir alle im Gefängnis der Vorsehung eingekerkert sind, welche uns durch Anwendung der zwei Mittel – Genießen und Leiden – zieht und stößt wohin sie es für richtig erachtet.

Daraus ergäbe sich die Schlussfolgerung, dass es in der Welt so etwas wie Eigenpersönlichkeit, ein „Ich“, nicht gäbe, da hier keiner frei ist und keiner auf eigenen Füßen steht. Ich bestimme nicht die Handlung und ich bin nicht der Handelnde, weil ich handeln möchte, sondern ich „werde gehandelt“, gezwungenermaßen, ohne nach meiner Meinung gefragt zu werden. Daraus geht hervor, dass keine unserer Taten belohnt oder bestraft wird.

Und das ist nicht nur für den Orthodoxen befremdend, der an die Fürsorge des Schöpfers glaubt und auf Ihn bauen kann und darauf vertraut, dass er in all ihren Handlungen dem Guten zustrebt. Für jene, die an die Natur glauben, ist es noch seltsamer da entsprechend dem oben Gesagten, wir alle in den Banden der blinden Natur gefangen wären, ohne Bewusstsein und Verantwortlichkeit. Und wir, die erwählte Spezies, Geschöpfe von Verstand und Wissen, wären ein Spielzeug in den Händen der blinden Natur, die uns in die Irre führte und wer weiß wohin?

 

Das Gesetz der Kausalität

Eine so wichtige Sache zu verstehen ist es wert, sich Zeit zu nehmen sie zu besprechen: Wie existieren wir in der Welt im Sinne der Persönlichkeit des Ich - dass jeder von uns sich als einzigartiges Wesen betrachtet, das aufgrund seiner eigenen Entscheidung handelt, unabhängig von äußeren, fremden und unbekannten Kräften. Und wodurch enthüllen wir die Persönlichkeit des Ich?

Es ist eine Tatsache, dass ein umfassendes Band all die einzelnen Teile der Realität verbindet, welches durch Ursache und Wirkung am Gesetz der Kausalität festhält. Wie in der Gesamtheit (Makro), so auch in jedem einzelnen Teilchen (Mikro). Alles Geschaffene, jedes Geschöpf auf der Welt der vier Erscheinungsformen – der unbelebten Natur, der Pflanzen, der belebten (tierischen) und der sprechenden (Menschen) - alle unterliegen dem Gesetz der Kausalität via Ursache und Folge.

Sogar jedes Detail einer bestimmten Verhaltensweise, an der eine Kreatur eine Weile festhält, ist durch Ursachen, die von früher her stammen, hervorgerufen; gezwungenermaßen übernimmt die Kreatur spezifischen Änderungen der Verhaltensmuster – und keine anderen. Und dies ist für jeden offensichtlich, der die Natur aus rein wissenschaftlicher Sicht, ohne jegliche Voreingenommenheit erforscht. Deshalb müssen wir dieses Thema analysieren, um es von allen Seiten betrachten zu können.

 

Vier Faktoren

Bedenke, jede Erscheinungsform, die bei den Geschöpfen der Welt auftritt, darf nicht als etwas Existentes, welches aus dem vorher Nicht-Dagewesenen kommt, verstanden werden, sondern muss als Existenz aus dem Bestehenden betrachtet werden, die aus etwas Seiendem hervorgegangen ist und die vorhergehende Form abgelegt hat, um die jetzige anzunehmen.

Daher müssen wir verstehen, dass in jeder Erscheinungsform auf der Welt vier Faktoren beteiligt sind und diese vier gemeinsam die jeweilige Erscheinungsform hervorbringen. Diese Faktoren sind:

 

  1. Die Grundlage
  1. Die unveränderlichen Eigenschaften der Grundlage gemäß Ursache und Wirkung
  1. Innere Faktoren, welche sich gemäß Ursache und Wirkung aufgrund des Kontaktes zu fremden Kräften verändern.
  1. Ursache und Wirkung fremder Kräfte, die von außen auf die Grundlage einwirken.

 

Ich werde einen Faktor nach dem anderen erklären:

 

Der erste Faktor: „Die Grundlage“ – das ursprüngliche Ausgangsmaterial

A. Die Grundlage, das heißt das erste Ausgangsmaterial, welches sich auf dieses Lebewesen bezieht. Denn „es gibt nichts Neues unter der Sonne“ und jedes Ereignis auf unserer Welt ist nicht „Existenz aus dem Nichts“, d.h. es ist nicht aus dem vorher Nicht-Dagewesenen entstanden (Jesch MiAin), sondern vielmehr ist es lediglich „Existenz aus Existenz“ (Jesch MiJesch). Das heißt, das Bestehende legt die vorangegangene Form ab und nimmt eine neue Form an, welche sich von der vorhergehenden unterscheidet. Und diese Essenz, welche die vorhergehende Form abgelegt hat, wird als „die Grundlage“ definiert. In ihr liegt die Kraft, die dazu bestimmt ist am Ende der jeweiligen Daseinsform offenbart und festgelegt zu werden. Daher ist es gewiss gerechtfertigt, sie als die erste und grundlegende Ursache anzusehen.

 

Der zweite Faktor: Ursache und Wirkung, die sich aus der Grundlage selbst ableiten

B. Der zweite Faktor ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung bezogen auf die der Grundlage eigenen, unveränderlich bleibenden Eigenschaft. Zum Beispiel führt das im Boden verrottende Weizenkorn zum Wachsen vieler neuer Weizenhalme. Die Verrottungsphase wird als „Grundlage“ erachtet. D.h. die Essenz des Weizens hat seine alte Gestalt - die Weizenform - abgelegt und die Form des verrotteten Weizens angenommen, der nun die Saat darstellt, „die Grundlage“ genannt, welche nun jeglicher Gestalt und Form entbehrt. Jetzt, da es im Boden verrottet ist, ist es würdig geworden, sich in eine andere Hülle zu kleiden, in die Form vieler Weizenhalme, die würdig sind aus dieser Grundlage - der Saat – hervorzukommen und zu wachsen.

Und es ist allseits bekannt, dass diese Grundlage weder dazu bestimmt ist Gerste zu werden noch Hafer, sondern sie kann nur ihrer vorhergehenden Form entsprechen, derer sie sich entledigt hat, die ein einzelnes Weizenkorn war. Und obwohl es sich in einem bestimmten Ausmaß verändert, sowohl in Qualität wie auch in Quantität, da es in der vorangegangenen Hülle ein einzelnes Korn war und nun zu zehn oder zwanzig Halmen geworden ist und sich auch in Geschmack und äußerer Erscheinung verändert hat, ist die Form des Weizens im Wesentlichen unverändert geblieben.

Daher gibt es eine Ordnung von Ursache und Wirkung, die der der Grundlage eigenen Eigenschaft zugeschrieben ist, die sich niemals ändert, da Gerste niemals aus Weizen hervorgehen wird, wie wir gesagt haben. Dies wird der zweite Faktor genannt.

 

Der dritte Faktor: Innere Ursache und Wirkung

C. Der dritte Faktor ist das Verhältnis von „Ursache und Wirkung“ im Inneren der Grundlage, welche sich aufgrund der Berührung und dem Zusammentreffen mit den umgebenden fremden Kräften aus dem Umfeld ändert. Das bedeutet, dass wir entdecken, dass aus einem Weizenhalm viele hervorgehen, die manchmal größer und besser sind als der vor der Aussaat.

Daher müssen hier zusätzliche Faktoren mitgewirkt haben. Die Grundlage hat mit den verborgenen Kräften aus der Umwelt zusammengearbeitet. Und aufgrund dessen trat der Zuwachs an Qualität und Quantität, der in der vorhergehenden Erscheinungsform des Weizens nicht sichtbar war, nun in Erscheinung. Diese zusätzlichen Faktoren sind Mineralien und Nährstoffe der Erde, Regen und Sonne. All dies wirkt auf die Erde ein, und diese Kräfte werden zur verborgenen Kraft der Grundlage selbst hinzugefügt und verbinden sich mit ihr; so dass durch Ursache und Wirkung eine Vervielfachung von Qualität und Quantität in der neuen Erscheinungsform hervorgebracht worden ist.

Wir sollten verstehen, dass sich dieser dritte Faktor mit der Grundlage in seinem Inneren verbindet, da die in der Grundlage verborgene Kraft diese Veränderungen so steuert, dass sie zu guter Letzt dem Weizen und nicht einer anderen Pflanze dienen. Daher betrachten wir dies als innere Faktoren. Jedoch unterscheiden sie sich vom unveränderlichen zweiten Faktor in jeder Hinsicht - denn der dritte Faktor verändert sich sowohl in Qualität als auch in Quantität.

 

Der vierte Faktor: Ursache und Wirkung durch fremde Kräfte

Der vierte Faktor ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung durch fremde Einflüsse, die  von außen auf sie einwirken. Es sind nicht jene gemeint, die eine direkte Verbindung mit dem Weizen haben, wie Mineralien, Regen und Sonne, sondern jene ohne direkte Verbindung und die ihr fremd sind, wie benachbarte Pflanzen, äußerliche Ereignisse, wie Hagel, Sturm etc.

Und wir entdecken, dass sich während der gesamten Wachstumsphase diese vier Faktoren mit dem Weizen vereinen. Jeder einzelne Zustand, den der Weizen während dieser Zeit durchmacht, ist durch diese vier Faktoren bedingt. Qualität und Quantität jeder Phase wird von ihnen bestimmt. Und so wie wir es am Beispiel des Weizens veranschaulicht haben, ist es in allem, was auf der Welt in Erscheinung tritt, selbst Gedanken und das Erwerben von Erkenntnissen unterliegen diesem Gesetz.

Wenn wir uns zum Beispiel irgendeine geistige Haltung eines Individuums vorstellen, sei eine Person religiös oder nicht religiös, oder extrem orthodox oder doch nicht so extrem, oder irgendwo dazwischen – so werden wir verstehen, dass diese innere Haltung durch die oben erwähnten vier Faktoren verursacht und festgelegt wird.

 

Ererbter Besitz

Der erste Faktor ist die Grundlage, das ursprüngliche Ausgangsmaterial. Der Mensch ist erschaffene Existenz aus Existenz (Jesch MiJesch), in der Bedeutung, er ist aus dem Geist seiner Vorfahren hervorgegangen. Bis zu einem gewissen Grad ist das wie das Kopieren von einem Buch in ein anderes, und meist sind die Dinge, die die Vorväter angenommen und erreicht haben, auch in ihn integriert.

Der Unterschied liegt jedoch darin, dass die Form schwindet, ähnlich dem ausgesäten Weizen, der erst dann als Saat betrachtet wird wenn er verrottet ist und seine vorherige Form abgelegt hat. So ist es auch mit dem Samentropfen, aus dem der Mensch geboren wird: von den Vorvätern bleibt nichts außer diesen verborgenen Kräften.

Und auch die gleichen Konzepte, die in seinen Vorvätern angelegt waren, sind bloß als Tendenzen und Anlagen  im Menschen vorhanden, es sind nun Instinkte oder Gewohnheiten, nach denen er handelt, ohne zu wissen, aus welchem Grund er auf diese Weise agiert. Denn es kommen nicht nur die materiellen Besitztümer durch Vererbung von einer Generation auf die andere, sondern auch die geistigen Werte und das ganze Wissen unserer Vorväter.

Und hier finden wir die verschiedenartigen Tendenzen in den Menschen, wie: die Bereitschaft zu glauben oder zu kritisieren; sich eher um das materielle Wohl zu sorgen oder sich für Ideale zu begeistern; Verachtung eines Lebens ohne Anforderungen, Tendenzen zu Geiz, zu Konsensbereitschaft, Unverschämtheit, Schüchternheit.

Denn all die Vorstellungen, die im Menschen aufsteigen, sind nicht sein eigener Besitz, den er sich angeeignet hat, sondern bloß Erbteil, das von seinen Vorfahren auf ihn gekommen ist. Es ist bekannt, dass diese Tendenzen auf einem speziellen Platz im Gedächtnis verankert sind. Dieser heißt „Medulla oblongata“ (verlängertes Mark) oder Unterbewusstsein und alle Tendenzen und Anlagen befinden sich dort.

Da die Konzepte unserer Vorfahren, die sie sich durch ihre Erfahrungen angeeignet haben, in uns eher als Neigungen vorzufinden sind, sind sie wie der ausgesäte Weizen, der seiner alten Form entledigt und bloßgelegt ist, jedoch mit den potentiellen Kräften in ihm und dazu bestimmt, eine neue Form anzunehmen. In Bezug auf uns sind diese Anlagen dazu bestimmt, Gedankenformen, Haltungen und Erkenntnisse zu bilden. Diese werden als die erste Grundlage betrachtet und dies ist der erste, wichtigste Faktor – die Grundlage. In ihm sind alle Kräfte aus allen Tendenzen und Neigungen gespeichert, die er von seinen Vorfahren geerbt hat.

Beachte jedoch, einige dieser Neigungen kommen in ihrer negativen Form zum Ausdruck, in einer Form, die im Gegensatz zu denen der Vorväter steht. Das ist der Grund, warum gesagt wird: „Alles was im Herzen des Vaters verborgen ist, wird im Sohn offenbar.“

Die Ursache dafür ist, dass „die Grundlage“ ihre vorhergehende Form ablegt um eine neue anzunehmen. Das Abschütteln der Denkweise der Vorfahren geschieht, wie beim Beispiel des Weizens, der in der Erde verrottet und sich seiner Hülle, in der er existierte, entledigt. Gleichzeitig hängt sie noch immer von den drei anderen Faktoren ab.

 

Der Einfluss des Umfeldes

Der zweite Faktor ist das Verhältnis von Ursache und Wirkung bezogen auf die der Grundlage eigenen, unveränderlich bleibenden Eigenschaft. Wie wir an Hand des Weizens, der in der Erde verrottet, abgeklärt haben, bedeutet das, dass die Umwelteinflüsse, denen die Grundlage ausgesetzt ist (Bodenqualität, Mineralien, Regen, Luft und Sonne) auf die Saat einwirken und zwar wie wir bereits erwähnten, in einer langen Verkettung von Ursache und Wirkung, während eines langen und langsamen Prozesses, Stufe um Stufe, bis sie reift.

Und die Grundlage hat ihre vorherige Form, die Form des Weizens wieder angenommen, jedoch mit einem Unterschied in Qualität und Quantität. Die allgemeine Erscheinung bleibt jedoch vollkommen unverändert – weder Gerste noch Hafer gehen aus ihm hervor. Der Weizen verändert sich in seinem Einzelaspekt der Quantität – aus einem einzigen Halm gehen ein oder zwei Dutzend hervor, und auch in der Qualität – die besser oder schlechter als in der vorhergehenden Form des Weizens ist.

Hier dasselbe. Der Mensch als „Grundlage“ ist in einem Umfeld – in der Gesellschaft - eingebettet. Und ob er will oder nicht, wird er durch sie beeinflusst, wie der Weizen von den Umwelteinflüssen, denn die Grundlage ist nur das Rohmaterial. Durch den Austausch und Kontakt mit dem Umfeld und den Umgang wird er daher von diesem während eines stetigen Prozesses und durch die Verkettung von aufeinander folgenden Situationen, durch Ursache und Wirkung geprägt.

Während das geschieht nehmen die Tendenzen, die in die Grundlage integriert sind, die Form von Konzepten und Erkenntnissen an. Angenommen, jemand erbt von seinen Vorfahren die Neigung zu Geiz, dann formt er in sich Konzepte und Gedankengebäude, die ihn schließen lassen, dass es gut sei, geizig zu sein. Daher kann er, auch wenn der Vater großmütig war, von ihm die negative Neigung zu Geiz geerbt haben, denn der Geiz ist im Erbgut vorhanden.

Oder ein anderer erbt die Anlage, aufgeschlossen zu sein. Er bildet in sich Meinungen und folgert aus ihnen, dass es gut sei, aufgeschlossen zu sein. Aber wo findet er den Sinn und die Gründe dafür? Er nimmt sie aus dem Umfeld – ohne zu wissen, dass das Milieu ihm die Meinungen und Neigungen stufenweise, durch Ursache und Wirkung, eingepflanzt hat.

Und das geschieht auf eine Weise, dass der Mensch sie für seine eigenen hält; er meint sie sich aus eigenen freien Überlegungen angeeignet zu haben. Hier ist es ebenso wie beim Weizen. Es besteht in der „Grundlage“ ein unveränderlicher Teil und dieser ist, dass die ererbten Neigungen bestehen bleiben, gerade so wie sie in seinen Vorvätern waren. Das ist der zweite Faktor.

 

Gewohnheiten werden zur zweiten Natur

Der dritte Faktor ist der direkte Kausalzusammenhang, die Grundlage geht durch Ursache und Wirkung und wird durch sie verändert. Denn da die ererbten Neigungen des Menschen sich durch das Umfeld verändert haben, umgewandelt in Konzepte und Erkenntnisse, arbeiten diese in die Richtung, die diese Konzepte festlegen. Zum Beispiel ein Mensch mit geiziger Natur, der durch die Gesellschaft seine Neigung in ein Konzept umgewandelt hat, kann nun Geiz mit verstandesmäßigen Definitionen verstehen. Angenommen, damit er niemanden braucht, schützt er sich selbst durch dieses Verhalten. Somit hat sein Geiz nun ein Maß, dass er diese Gewohnheit, nach einiger Zeit, wenn er keine Befürchtungen mehr hat, loslassen kann. Daraus folgt, dass er die ursprüngliche Neigung, die er von seinen Vorfahren geerbt hat, zum Besseren gewandelt hat. Und gelegentlich gelingt es jemandem, die schlechte Neigung völlig abzulegen. Es ist dies durch Gewohnheit geschehen, die zur zweiten Natur werden kann.

Darin ist die Kraft des Menschen größer als die der Pflanzen. Denn der Weizen kann sich nicht wandeln, nur in einem Einzelaspekt, während der Mensch die Möglichkeit hat, seinen persönlichen Teil zu verändern – durch die Kraft des umfeldbedingten Ursachen-Wirkungszusammenhang. Sogar seinen allgemeinen Teil kann er verändern, d.h. er kann eine Neigung vollständig ablegen und in ihr Gegenteil verkehren.

 

Äußere Faktoren

Der vierte Faktor ist das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung durch fremde Einflüsse, die von außen einwirken. Gemeint sind jene Kräfte, die nicht mit der Wachstumsführung der Grundlage in Beziehung stehen, jedoch indirekt arbeiten. Wie zum Beispiel Geldangelegenheiten, alltägliche Bürden oder Aufregungen etc., die vollständig, langsam und nach und nach auf die Situationen einwirken durch „Ursache und Wirkung“, die die Konzepte des Menschen verändern, zum Besseren oder Schlechteren.

Daher habe ich die vier natürlichen Faktoren vorangestellt, den jeder unserer Gedanken, alle Meinungen und Ideen, die in uns hochkommen, sind ausschließlich durch sie hervorgerufen. Und wenn einer den ganzen Tag lang sitzen und meditieren würde, könnte er nichts hinzufügen oder in anderer Weise ändern, als nur das, was diese vier Faktoren ihm vorgeben. Jegliches Mehr ist nur hinsichtlich der Quantität möglich – sei er ein großer oder ein kleiner Geist, an Qualität kann er kein Jota hinzufügen. Denn sie legen den Charakter und die Hülle der Ideen und die unweigerliche Schlussfolgerung fest, ohne um unsere Meinung zu fragen. Daher sind wir in den Händen dieser vier Faktoren, wie Ton in den Händen des Töpfers.

 

Freie Wahl

Wie auch immer, wenn wir diese vier Faktoren untersuchen, entdecken wir, dass auch wenn unsere Kraft nicht ausreicht, um dem ersten Faktor, der Grundlage, zu trotzen, wir die Möglichkeit und die freie Entscheidung haben, uns vor den drei anderen Faktoren zu schützen, durch die die Grundlage in ihren Einzelteilen verändert wird. Manchmal verändert sie sich auch in ihrem allgemeinen Teil, durch Gewohnheit, die ihn mit einer zweiten Natur versieht.

 

Das Umfeld als Faktor

Sich vor den anderen Faktoren zu schützen bedeutet, dass wir hinsichtlich der Auswahl unseres Umfeldes, wie Freunde, Bücher, Lehrer usw. immer weiteres hinzufügen können. So wie jemand, der von seinem Vater ein paar Weizenhalme geerbt hat, damit er diese paar Dutzend Weizenhalme vermehrt, indem er Umweltbedingungen für seine „Grundlage“ auswählt, mit fruchtbarer Erde, die alle notwendigen Mineralien und Rohstoffe enthält, um den Weizen reichlich zu nähren. Hinzu kommen die Mühe und Plage, mit denen die Umweltbedingungen verbessert und an die Bedürfnisse und das Wachstum der Pflanze angepasst werden. Denn der Weise tut gut daran, nur die besten Bedingungen zu wählen und seine Arbeit wird gesegnet sein, doch der Narr nimmt von allem und jedem, was immer ihm über den Weg läuft und so wird jener zum Fluch anstatt zum Segen säen.

Somit hängt all sein Ruhm und Preis von der Wahl des Umfeldes ab, in das der Weizen gesät wird. Sobald er jedoch am ausgewählten Ort ausgesät ist, hängt seine endgültige Form davon ab in welchem Maße die Umgebung imstande ist, ihn zu versorgen.

Was dieses Thema betrifft, um ehrlich zu sein – es gibt keine Willensfreiheit, sondern wir werden von den vier oben erwähnten Faktoren geprägt. Und gezwungenermaßen denken wir und bilden uns unsere Meinungen so wie diese es uns vorgeben, und wir können weder prüfen noch etwas ändern, so wie der Weizen in seiner Umgebung.

 

Es besteht jedoch die Willensfreiheit sich erst ein solches Umfeld zu erwählen – Bücher und Lehrer – die einen mit guten Konzepten versehen. Und wenn jemand dies nicht tut und er sich von allem Möglichen beeinflussen lässt und jedes Buch, das ihm in die Hände fällt, liest, gerät er automatisch in ein schlechtes Umfeld, oder er wird seine Zeit mit wertlosen Büchern verschwenden, die es in Hülle und Fülle gibt und die leicht zu lesen sind. Diese verleiten ihn zu schädigenden Auffassungen und führen ihn in Sünde und Verderbnis. Mit Gewissheit wird dieser bestraft, jedoch nicht aufgrund seiner bösen Gedanken und Taten, denn die kann er nicht beeinflussen, sondern er wird dafür bestraft, dass er nicht das gute Umfeld auswählte. Denn wie wir gesehen haben, hat er darin definitiv die Möglichkeit einer Wahl.

Daher ist derjenige, der ständig darauf bedacht ist, ein besseres Umfeld zu wählen, des Lobes und der Belohnung würdig. Aber auch hier: nicht wegen seiner guten Taten oder Gedanken, die ihm zufließen, ohne sie gewählt zu haben, sondern wegen seiner Anstrengungen sich einer guten Beeinflussung auszusetzen, die ihm diese guten Gedanken und Taten zufließen lässt. Wie Rabbi Yehoshua Ben Prachia sagte: “Schaffe dir einen Rabbi und kaufe Dir einen Freund.”

 

Die Unabdingbarkeit, sich ein gutes Umfeld zu erwählen

Daher ist die Antwort, die Rabbi Yosi Ben Kisma (Avot 86) gab, nur zu verständlich geworden. Der, als ihm angeboten wurde, in der Stadt einer anderen Person zu leben und mit Tausenden von Goldmünzen bezahlt zu werden, antwortete: „Selbst wenn du mir alles Gold und Silber und alle Edelsteine und Perlen der Welt geben würdest - ich werde einzig und allein an einem Ort der Thora leben.“ Diese Worte erscheinen für einen einfachen Geist zu edel, um erfasst werden zu können. Denn wie kann es sein, dass er Tausende von Goldmünzen verschmäht für eine so winzige Sache, wie an einem Ort zu leben, wo es keine Schüler der Thora gibt, wo er doch selbst ein großer Weiser war, der von niemanden belehrt werden konnte? Das ist in der Tat ein großes Rätsel!

Wie wir aber gesehen haben, ist das ganz einfach und sollte von jedem von uns erkannt werden. Denn obwohl jeder „seine eigene Grundlage“ hat, enthüllen sich die Kräfte nicht einfach von selbst, sondern durch das Umfeld, in dem sich einer aufhält, genauso wie der Weizen, der in den Boden gesät wird und dessen Wachsen allein von den Umwelteinflüssen, die auf ihn einwirken, wie Erde, Regen und das Licht der Sonne, abhängig ist.

Daher hat Rabbi Yosi Ben Kisma richtigerweise angenommen, dass, falls er das gute Umfeld, welches er erwählt hatte, verlassen und in ein schädigendes geraten würde, d.h. an einen Ort, an dem es keine Thoraschüler gäbe, dann wären nicht nur seine vorherigen Konzepte in Frage gestellt, auch alle anderen Kräfte, die noch in seiner Grundlage versteckt schlummern, die er noch nicht enthüllt hatte, sie würden sich nicht weiter offenbaren, sondern verdeckt bleiben. Dies wäre so geschehen, da diese Kräfte nicht durch das rechte Umfeld so beeinflusst worden wären, um sie zu erwecken, um sie von potentiellen zu aktiven Kräften zu transformieren.

Und so wie wir oben erklärt haben, es wird einzig und allein in Hinsicht der Wahl des Umfeldes das Ausmaß der Regentschaft des Menschen über sich selbst bestimmt, und er wird aufgrund dieser Wahl wert, Lob und Ehre oder aber Bestrafung zu erhalten. Daher braucht man nicht überrascht zu sein, warum ein weiser Mann wie Rabbi Yosi Ben Kisma die Wahl des Guten trifft und das Schlechte ablehnt und sich nicht von materiellen und physischen Dingen verlocken lässt, wie in seiner Schlussfolgerung hier: „Wenn einer stirbt, nimmt er weder Gold noch Silber, noch Edelsteine und Perlen mit sich, sondern nur seine guten Taten und Thora.” Und daher warnten uns die Weisen: „Schaffe dir einen Rabbi und kaufe dir einen Freund”, sowie auch die Auswahl der Bücher, so wie wir erwähnten zu treffen ist. Denn allein darin kann jemand gerügt oder gelobt werden, nämlich in Hinsicht seiner Wahl des Umfeldes. Wenn einer einmal dieses Umfeld gewählt hat, ist er in diesem, wie Ton in den Händen des Töpfers.

 

Die Macht des Verstandes über den Körper

Es ist die Meinung einiger weiser externer Wissenschaftler der Gegenwart bekannt, nachdem sie das oben erwähnte Thema geprüft und erkannt haben, der Verstand des Menschen sei nichts anderes als eine Frucht, die aus den Lebenserfahrungen herauswächst, kamen sie zu der Schlussfolgerung, dass der Verstand den Körper auf keinerlei Weise lenken kann. Allein die Ereignisse des Lebens, die in die Gehirnbahnen eingeprägt sind, steuern und aktivieren den Menschen. Der Verstand des Menschen ist wie ein Spiegel, der die ihm gegenüberliegenden Formen wiedergibt und obwohl der Spiegel Träger dieser Formen ist, kann er die Formen, die sich in ihm spiegeln, nicht aktivieren oder bewegen.

Genauso funktioniert der Verstand. Obwohl die Ereignisse des Lebens in all ihren Ursachen und Wirkungen, mit dem Verstand erfasst und wahrgenommen werden, ist er nicht fähig, den Körper in eine Richtung – näher hin zum Guten oder weiter weg vom Schlechten - zu bewegen, da das Spirituelle und das Körperliche vollständig voneinander getrennt sind. Und es gibt kein Verbindungsglied zwischen den beiden, um den Verstand instand zu setzen, den physischen Körper zu aktivieren oder auf ihn einzuwirken, wie es in aller Länge kreuz und quer besprochen worden ist.

Wo sie jedoch klug sind, dort stoßen sie auch auf Schwierigkeiten. Denn des Menschen Vorstellungskraft dient ihm nicht weniger als das Mikroskop dem Auge dient, denn ohne Mikroskop kann er die schädlichen Dinge aufgrund ihrer Winzigkeit nicht sehen. Jedoch, wenn er die schädliche Ursache mit Hilfe des Mikroskops gesehen hat, entfernt sich der Mensch von diesem Schädling.

Es erweist sich, dass es das Mikroskop ist, das den Menschen zum Handeln veranlasst sich vom Schädlichen zu entfernen, und nicht das Sinnesorgan, denn das Sinnesorgan hatte das Schlechte nicht erkannt. Und in diesem Ausmaß wird der Verstand den Körper vollständig beherrschen und ihn dazu bringen, sich vom Schlechten zu entfernen und sich dem Guten anzunähern. Das ist so gemeint, dass in all den Angelegenheiten, wo die Eigenschaften des Körpers fehlschlagen, die Wohl bringenden oder die schädlichen Faktoren zu erkennen, dort braucht er  den Scharfsinn des Verstandes.

Und noch mehr, indem der Mensch ferner seinen Verstand als Schlussfolgerungen aus seinen Lebenserfahrungen erkennt, kann er daher Verstand und Weisheit einer Vertrauensperson für sich in Anspruch nehmen und als Gesetz anerkennen, obwohl ihm sich diese Einsichten aus den Ereignissen seines eigenen Lebens noch nicht enthüllt haben. Dies ist wie bei einem Menschen, der einen Arzt um Rat fragt und dessen Rat befolgt, obwohl er mit seinem eigenen Verstand nichts von Medizin versteht. So benützt jemand den Verstand eines anderen nicht weniger als wie den eigenen.

Wie wir oben dargelegt haben, gibt es also zwei Wege, mit deren Hilfe die Vorsehung den Menschen gewiss an das gute und unausweichliche Ziel kommen lässt:

 

  1. Der Weg des Leidens
  1. Der Weg der Thora (des Lichtes)

 

Die ganze Klarheit des Weges der Thora (des Lichtes, der kabbalistischen Methodik)  leitet sich davon ab. Denn diese klaren Konzeptionen wurden durch eine starke und lange Kette von Erfahrungen während der Leben der Propheten und Kabbalisten, die dem Schöpfer dienten, enthüllt und wiederholt bestätigt. Und da kommt ein Mensch, der diese Erfahrungen zur Gänze nutzbar macht und von ihnen profitiert, als kämen diese Konzeptionen aus seinen eigenen Lebenserfahrungen.

Daher erkennt man - damit jemand von der ganzen Qual erlöst wird, muss er, bevor er diese Klarheit des Verstandes für sich entwickelt, Erfahrungen einsammeln. So spart er beides, Zeit und Qual.

Dies kann mit einem Kranken verglichen werden, der den Anordnungen des Arztes nicht Folge leisten will, solange er nicht selbst verstanden hat, auf welche Weise ihn der Ratschlag heilen würde, und deshalb Medizin zu studieren beginnt. Er könnte an seiner Krankheit sterben, bevor er sich das Wissen der Medizin angeeignet hat.

So steht der Weg des Leidens dem Weg der Thora gegenüber. Für denjenigen, der nicht an die Konzepte, die die Thora und die Propheten ihm anraten, glaubt ohne es selbst zu verstehen, derjenige muss selbst zu diesen Einsichten kommen. Nämlich indem er der Verkettung von Ursachen und Wirkungen der Ereignisse seines Lebens folgt, wobei diese Erfahrungen ihn sehr dazu antreiben, dass er fähig ist, einen Sinn für das Erkennen des Bösen zu entwickeln, so wie wir gesehen haben, ohne Wahlmöglichkeit, aber durch seine Arbeit sich ein gutes Umfeld zu schaffen, das ihn zu guten Gedanken und Handlungen führt.

 

Die Freiheit des Individuums

Nun haben wir ein grundlegendes Verständnis der Freiheit des Individuums. Wie auch immer, bezieht sich dies nur auf den ersten Faktor, auf die Grundlage, die das ursprüngliche Ausgangsmaterial jedes Menschen ist, das sind all die charakteristischen Züge, die wir von unseren Vorfahren geerbt haben, worin wir uns voneinander unterscheiden.

Denn auch wenn Tausende von Leuten das gleiche Umfeld teilen, sodass die anderen drei Faktoren gleicherweise auf sie einwirken, wird man dennoch keine zwei Leute finden, die die gleichen Eigenschaften haben. Deshalb weil jeder von ihnen seine eigene, einzigartige Grundlage hat. Dies ist wie beim Ausgangsmaterial des Weizens, das obwohl es sich durch die Einwirkung der verbleibenden drei Faktoren stark verändert, trotzdem immer seine vorgegebene Form des Weizens beibehält und niemals eine andere Form annehmen wird.

 

Das Grundmuster der Vorfahren geht nie verloren

So ist es so, dass jede „Grundlage“, die die vorgegebene Form der Vorfahren fortführt und eine neue Form in Folge der drei hinzugekommenen Faktoren annimmt und sich daher wesentlich verändert, behält dennoch das Grundmuster der Vorfahren bei und sie wird auch nicht das Muster einer anderen Person annehmen, die ihm ähnelt, genauso wie der Hafer niemals dem Weizen gleichen wird.

So ist jede Grundlage eine lange Verkettung und umfasst einige hundert Generationen und die Grundlage beinhaltet alle deren Konzepte. Jedoch erscheinen sie nicht in der Weise, wie sie in seinen Vorfahren zu Tage traten, das heißt als dieselben Anschauungen, sondern als abstrakte Formen. Deshalb sind sie als abstrakter Kräfte in ihm enthalten, als „Neigungen“ und „Instinkte“, ohne deren Ursache zu wissen oder zu wissen warum er so handelt. So können niemals zwei Personen die gleichen Eigenschaften haben.

 

Die Freiheit des Individuums muss geschützt werden

Wisse, dies ist der einzig wahre Besitz des Individuums, der weder beschädigt noch verändert werden darf. Denn letzten Endes werden sich diese Neigungen der Grundlage materialisieren und die Form von fertigen Konzepten annehmen, wenn das Individuum herangewachsen und aus Eigenem seinen Verstand geformt haben wird. Und das Gesetz der Evolution, das diese ganze Verkettungen steuert, treibt sie immer vorwärts, wie es im Artikel „der Frieden“ dargelegt ist. Weiters lernen wir, dass jede Neigung dazu bestimmt ist, zu einem geläuterten Konzept unermesslichen Wertes zu werden.

Dies bedeutet auch, wenn einer eine Neigung aus einem Individuum ausrottet und sie herausreißt, verursacht er einen Verlust dieses geläuterten und wunderbaren Konzepts für die Welt, welches dazu bestimmt gewesen wäre, sich am Ende der Kette zu formen, denn diese Tendenz wird niemals wieder in einem anderen als in diesem Körper auftreten.

Daher verstehen wir, wenn eine einzelne Neigung die Form eines Konzeptes annimmt, dann kann sie nicht mehr als gut oder schlecht betrachtet werden. Solche Unterscheidungen können nur getroffen werden, solange sie Tendenzen oder unausgereifte Konzepte sind, doch keinesfalls mehr, wenn sie die Form eines wahren Konzeptes angenommen haben.

Aus dem Obigen lernen wir welch schreckliches Unrecht jene Nationen ihren Minderheiten zufügen, die ihnen ihre Herrschaft aufzwingen und ihnen die Freiheit vorenthalten, indem sie ihnen die Möglichkeit nehmen, ihr Leben gemäß ihren von den Vorfahren ererbten Tendenzen zu leben. Sie sind wie Mörder der Seelen – um nichts besser.

Sogar jene, die nicht gläubig sind und an kein zielbewusstes Walten glauben, selbst sie verstehen, wie wichtig es ist, die Freiheit des Individuums zu schützen, – aus der Beobachtung der Natur heraus. Denn wir können sehen, dass jede Nation, die jemals zu Fall gebracht wurde, dadurch unterging, weil sie die Minderheiten unterdrückte und diese dann gegen sie rebelliert und sie zerstört haben. Daher ist für jeden offensichtlich, dass es ohne Freiheit des Individuums keinen Frieden auf der Welt geben kann. Wenn man dies nicht berücksichtigt, kann niemals Frieden sein und der Ruin wird die Oberhand gewinnen.

Wir haben die Essenz des Individuums mit äußerster Genauigkeit definiert, nachdem wir alles, was es von der Allgemeinheit übernimmt, abgezogen haben. Aber nun sehen wir der Frage ins Gesicht – wo ist letztendlich das Individuum selbst? Denn alles, was wir bis hierher gesagt haben, haben wir als von den Vorfahren ererbtes Besitztum des Individuums betrachtet. Aber wo ist das Individuum selbst? Der Erbe und der Erwerber, der den Schutz seines Eigentums von uns  fordert?

Denn aus allem so weit Gesagten haben wir noch nicht den Punkt des „Selbst“ im Menschen gefunden, der ihn als unabhängiges Einzelwesen vor unsere Augen führt. Was soll ich schließlich mit dem ersten Faktor tun, der eine lange, tausende Menschen umfassende Kette ist – einen nach dem anderen, von Generation zu Generation, die die Erscheinung des Individuums als ihren Erben festsetzt? Und was soll ich mit den anderen drei Faktoren tun, die tausende Menschen einschließen, die sich in einer Generation gegenüberstehen? Fazit ist, dass jedes Individuum wie eine Maschine von Allgemeingut ist, die in der Erwartung harrt, von der Allgemeinheit nach ihrem Gutdünken benützt zu werden. Und zwar wird er auf zweierlei Arten durch die Allgemeinheit/das Kollektiv beeinflusst:

 

  1. Aus der Sicht des ersten Faktors, ist er aus der Allgemeinheit, die sich aus der langen Reihe aufeinander folgenden vergangenen Generationen zusammensetzt, hervorgegangen.
  1. Aus der Sicht der anderen drei Faktoren wird er durch die gegenwärtige Allgemeinheit beeinflusst.

 

Das ist in der Tat eine allumfassende Frage. Aus diesem Grund widersprechen viele der obigen, natürlichen Methode, obwohl sie auch ihre Richtigkeit erkennen. Stattdessen wenden sie sich metaphysischen Methoden, dem Dualismus oder dem Transzendentalismus zu, um sich ein Bild von spirituellen Dingen und auf welche Weise sich Spirituelles im Innern des Körpers und in der Seele befände, zu fabrizieren. Und es ist diese Seele die lernt und auf den Körper einwirkt. Und diese Seele ist die Essenz des Menschen, sie setzt den Körper in Betrieb und ist sein „Selbst“.

Und vielleicht könnten diese Interpretationen den Geist des Menschen beruhigen, aber das Problem ist, dass diese keine systematische Lösung beinhalten, wie es für ein spirituelles Objekt möglich sein sollte, mit den physischen Atomen des Körpers in Kontakt zu treten und ihn (den Körper) irgendwie in Bewegung zu setzen. Und ihre Klugheit hilft ihnen nicht ein Verbindungsglied zu finden, mit dem der tiefe und weite Graben zwischen der spirituellen Existenz und dem körperlichen Atom zu überbrücken wäre. Daher hat die Wissenschaft nichts aus all diesen metaphysischen Methoden gewonnen.

 

Das Verlangen zu empfangen – Existenz aus dem vorher Nicht-Dagewesenen

Das einzige was wir brauchen, um hier einen Schritt vorwärts zu kommen, ist die Weisheit der Kabbalah als wissenschaftliche Methode. Denn alle Weisheit der Welt ist in der Weisheit der Kabbalah inkludiert. „Die spirituellen Lichter und Gefäße (Kelim)“ betreffend, lernen wir die bedeutendste Neuheit aus der Sicht des Erschaffenen. Nämlich das Er Existenz aus dem vorher Nicht-Dagewesenen erschaffen hat, auf die nur ein einziger Aspekt zutrifft, der als das „Verlangen zu empfangen“ „Razon Lekabel“ zu definieren ist. Alle anderen Dinge in der gesamten Schöpfung sind definitiv keine Neuheiten, sie sind nicht Existenz aus dem Nicht-Dagewesenen, sondern Existenz aus Existenz. In der Bedeutung, dass sie direkt aus Seinem Sein hervorgegangen sind, so wie das sich aus der Sonne fortpflanzende Licht. Auch hier besteht keine Neuheit, da die Substanz der Sonne sich ausbreitet und nach außen tritt.

Aber das „Verlangen zu empfangen“ „Razon Lekabel“ ist eine vollkommene Neuheit. Es bedeutet, dass vor der Schöpfung, so etwas nicht existierte, da in Ihm ein solcher Aspekt des Empfangen wollen durchaus nicht vorhanden war. Denn Er ist allem vorausgegangen, von wem könnte Er denn empfangen? Daher ist dieses Empfangen wollen, das Er als Existenz aus dem Nicht-Dagewesenen herleitete, eine komplette Neuheit. Alles andere aber, hat nichts Neues an sich, um „Schöpfung“ genannt werden zu können. Daher werden sowohl Gefäße (Kelim) als auch Körper, ob aus den spirituellen Welten oder aus der physischen, als materielle oder spirituelle Substanz betrachtet, der die Natur „empfangen wollen“ innewohnt.

 

Zwei Kräfte im Verlangen zu empfangen: die anziehende und die abweisende Kraft 

Weiters sollte man erkennen, dass in dieser Kraft, die „Verlangen zu empfangen“ genannt wird, zwei Kräfte unterschieden werden:

 

  1. Die anziehende Kraft
  1. Die abweisende Kraft

 

Die Ursache dafür besteht darin, dass jeder Körper oder jedes Gefäß (Kli) durch das Verlangen zu empfangen geprägt ist und sowohl in Qualität wie auch in Quantität des Empfangen-könnens begrenzt ist. Jene Menge und Qualität, die seine Grenzen überschreiten, scheinen gegen seine Natur zu gehen und daher weist es sie ab. Daher wird dieses „Verlangen zu empfangen“, obwohl als anziehende Kraft erachtet, auch zwingend zu einer abweisenden.

 

Ein einziges Gesetz für alle Welten

Obgleich die Weisheit der Kabbalah nichts über unsere physische Welt erwähnt, existiert nur ein einziges Gesetz in allen Welten (wie es im Artikel „Die Essenz der Weisheit der Kabbalah“ beschrieben ist und heißt das Gesetz der Wurzel und des Zweiges). Daher laufen alle körperlichen Existenzformen unserer Welt - alles innerhalb dieses Raumes - sei es unbelebt, pflanzlich, tierisch, ein spirituelles oder physisches Objekt (wenn wir deren einzigartiges, eigenes Erscheinungsbild, selbst in den kleinsten Unterscheidungsmerkmalen, bestimmen wollen) auf nichts anderes als das „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel) hinaus, das aus der Sicht der erneuerten Schöpfung nur ein Teilchen dieses Verlangens darstellt, begrenzt dieses in Quantität wie auch in Qualität und legt die Anziehungs- bzw. Abstoßungskraft fest.

Aber alles andere als diese zwei in der Schöpfung wirkenden Kräfte wird als Gabe aus Seiner Essenz erachtet, wo diese Fülle für alle gleich ist, und es wird allem Erschaffenen bei der Schöpfung nichts Neuartiges zugeschrieben, sondern strömt wie Existenz aus Existenz aus. Und es kann nicht einem Einzelstück zugeschrieben werden, sondern nur Dingen, die allen Teilen der Schöpfung, ob klein oder groß, gemeinsam sind. Sodass jedes von ihnen diese Fülle empfängt, und zwar genau entsprechend seinem Verlangen zu empfangen und entsprechend der Einschränkung, der jedes Individuum und Einzelwesen unterliegt und die jedes Individuum und Einzelwesen prägt.

So habe ich eingehend und wissenschaftlich das Selbst (Ego) jedes Individuums bewiesen. Auf wissenschaftlich-kritischer Beweisführung basierend und von allen Seiten beleuchtet und sogar auf die Denkweise fanatischer Materialisten Bezug genommen. Von nun an brauchen wir all die Krücken-Methoden, gewürzt mit der Metaphysik, nicht mehr.

Und selbstverständlich macht es keinen Unterschied, ob diese Kraft - das Verlangen zu empfangen (Razon Lekabel) - eine Folge und ein Ergebnis der durch chemische Reaktionen materialisierten Struktur ist oder ob die Struktur ein Resultat und eine Frucht dieser Kraft ist. Denn wie wir wissen ist das Wichtigste, dass allein diese Kraft, das „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel), die in jedem umgrenzten Wesen und Atom eingeprägt ist, als Einheit erachtet wird, die von ihrer Umgebung abgeschnitten ist. Dies ist wahr – sowohl für das einzelne Atom als auch für den Atomverbund, der den Körper bildet.

Und alle anderen Aspekte, wo zu dieser Kraft etwas hinzugefügt ist, haben nicht im Geringsten einen Bezug zu diesem Teilchen oder dieser Teilchenansammlung, aus der Sicht des Teilchens betrachtet, sondern alleine im allgemeinen. Es ist die Fülle, die ihnen vom Schöpfer zugeteilt ist, und sie ist für alle Teile der Schöpfung gemeinsam, ohne spezifische Unterscheidung der erschaffenen Körper.

Nun sollten wir dieses Thema „Freiheit des Individuums“ hinsichtlich der Definition des ersten Faktors, der von uns „Grundlage“ genannt wurde, verstehen, in welche alle vorhergegangenen Generationen, die Vorfahren dieses Individuums, ihre Natur eingeprägt haben. Und wie wir abgeklärt haben, bedeutet das Wort „Individuum“ nur Grenzen des in diesen Partikelverband eingeprägten „Verlangens zu empfangen“, „Razon Lekabel“.

Man sieht daher, dass alle Neigungen und Anlagen, die er von seinen Vorfahren geerbt hat, nicht mehr als Umgrenzungen seines „Verlangens zu empfangen“ (Razon Lekabel) sind, sowohl von Seiten der anziehenden Kraft in ihm als auch von der Seite der abstoßenden Kraft, die als Neigungen vor uns erscheinen, wie Geiz oder Großzügigkeit, unter die Leute zu gehen oder lieber allein zu sein und so weiter.

Aufgrund dessen sind diese in der Tat sein Selbst (Ich) und kämpfen um die Existenz. Wenn wir daher auch nur eine einzige Anlage eines einzelnen Individuums ausrotten, trennen wir ein Organ von seinen Knochen ab. Und dies wird als Verlust für die gesamte Schöpfung erachtet, da keine andere wie diese existiert noch jemals existieren wird.

Nachdem wir gründlich das Recht des Individuums auf Freiheit bezüglich der Naturgesetze abgeklärt haben, lasst uns nun der praktischen Umsetzung zuwenden, ohne Kompromisse bzgl. Theorie der Ethik oder Staatsführung. Und das Wichtigste: wie wird dieses Recht hinsichtlich unserer heiligen Thora/Kabbalah praktiziert.

 

Folge der Mehrheit

Unsere Schriften besagen: „Folge der Mehrheit“. Das bedeutet, wann immer ein Widerstreit zwischen der Mehrheit und dem Individuum besteht, sind wir aufgerufen, nach dem Willen der Mehrheit zu entscheiden. Man sieht daraus, dass die Mehrheit das Recht hat, die Freiheit des Individuums einzuschränken.

Jedoch stehen wir nun einer anderen Frage gegenüber, schwerwiegender als die erste, da dieses Gesetz scheinbar zu einem Rückschritt der Menschheit führt, anstatt ihrem Fortschritt zu dienen. Da nämlich der Großteil der Menschheit noch unentwickelt ist, und die Entwickelten  immer nur eine kleine Minderheit darstellen, bedeutet das, wenn man dem Willen der unentwickelten, hitzigen Mehrheit folgen würde, würden die Meinungen und der Wille der Weisen und Entwickelten, die immer die Minderheit bilden, niemals in Betracht gezogen. Damit wäre das Schicksal der Menschheit Richtung Rückschritt besiegelt, denn sie wäre nicht in der Lage auch nur einen Schritt vorwärts zu schreiten.

Andererseits heißt es im Artikel „Der Frieden“ über die „Verpflichtung die Naturgesetze zu wahren“, dass seit wir durch die Vorsehung dazu bestimmt sind, ein Leben in einem sozialen Verband zu leben, wir auch verpflichtet sind alles einzuhalten, was der Gesellschaft zuträglich ist. Und wenn wir ihre Wichtigkeit auch nur geringfügig unterschätzen, wird die Natur an uns Rache nehmen, unabhängig davon, ob wir den Sinn dieses Gesetzes verstehen oder nicht.

Und wir erkennen, dass es keine Alternative zu „Folge der Mehrheit“ in diesem sozialen Verband gibt, denn dadurch werden alle Meinungsverschiedenheiten und Drangsale der Gesellschaft geordnet. Daher ist dieses Gesetz das einzige Instrument, das der Gesellschaft das Recht zu existieren gibt. Daher wird es als eines der natürlichen Gebote (Mitzvot) der Vorsehung erachtet und wir müssen es ungeachtet unseres Verständnisses akzeptieren und genauestens beachten.

Dies ist wie bei allen anderen Geboten (Mitzvot – die Handlungen zur Korrektur des Egoismus) der Thora, die alle Gesetze der Natur und Seiner Vorsehung sind, die von oben zu uns herabkommen. Und ich habe bereits beschrieben (im Artikel „die Essenz der Weisheit der Kabbalah“, Kap. „das Gesetz der Wurzel und des Zweiges“), wie die Hartnäckigkeit, die wir auf der Welt in der Führung durch die Natur erkennen, nur daraus kommt, dass sie aus Gesetzen und der Führung durch die höheren, spirituellen Welten ausgeströmt sind.

Man kann daher erkennen, dass die Mitzvot nichts anderes als in den höheren Welten verankerte Gesetze und Anleitungen sind, die die Wurzel aller Direktiven der Natur in unserer Welt sind, so wie zwei Tropfen in einem Teich. Somit haben wir bewiesen, dass das Gesetz „Folge der Mehrheit“ das Gesetz der Vorsehung und Natur ist.

 

Der Weg der Thora und der Weg des Leidens

Bisher haben wir die Frage nach dem Rückschritt, die hinsichtlich dieses Gesetzes aufgetaucht ist, noch nicht befriedigend beantwortet. Es ist unser Anliegen diese Antwort zu finden. Die Vorsehung fehlt darin jedoch nicht, denn sie hat die Menschheit in Wahrheit bereits in zwei Wege eingetaucht: in „den Weg der Thora“ und in „den des Leidens“. Und zwar auf eine solche Weise, dass die kontinuierliche Entwicklung und der Fortschritt der Menschheit ihrem Ziel entgegen gesichert ist und sie wirkt ohne Vorbehalt (Artikel „der Frieden“- Maamar HaSchalom, Kap. „Die Bürgschaft“- Arvut). Folglich ist es eine natürliche und notwendige Verpflichtung, dieses Gesetz einzuhalten.

 

Das Recht der Mehrheit, dem Individuum die Freiheit zu nehmen

Weiterhin müssen wir uns fragen: Denn Dinge werden gerechtfertigt, wenn es um Vorkommnisse zwischen zwei Menschen geht. Sodass wir in diesem Fall das Gesetz „Folge der Mehrheit“ annehmen können, da die Vorsehung uns dazu verpflichtet, da sie uns lehrt, für das Wohlbefinden und das Glück der Freunde Sorge zu tragen. Das Gesetz des „Folge der Mehrheit“ ist jedoch auch dann in der Thora gegründet, wenn es sich um Differenzen zwischen dem Menschen und dem Schöpfer handelt, obwohl dies für die Gesellschaft irrelevant zu sein scheint.

Daher stellt sich diese Frage immer noch: wie können wir dieses Gesetz rechtfertigen, das uns dazu verpflichtet, die Meinung der Mehrheit zu akzeptieren (die, wie wir angeführt haben, unentwickelt ist), und die Meinung der Entwickelten verwirft und für nichtig erachtet, da die Entwickelten allerorts die Minderheit darstellen?

Wie wir aufzeigten (im Artikel „Die Essenz der Religion und ihr Zweck“, Kap. „Bewusste und unbewusste Entwicklung“), sind Thora und Mitzvot (die kabbalistische Methodik für die Korrektur des Egoismus) allein dazu gegeben, um Israel zu läutern, d.h. um unser Bewusstsein für das bei der Geburt in uns eingeprägte Böse zu entwickeln, das im Allgemeinen als Selbstliebe bezeichnet wird. Und um das Reine, Gute, das „liebe Deinen Nächsten“ zu erreichen, das den einzigen Weg zur Gottesliebe darstellt.

Und die Gebote (Mitzvot) zwischen Mensch und Schöpfer sind von jener Kategorie, damit der Mensch sich wunderbare Tugenden aneigne, die ihn von der für die Gesellschaft schädlichen Selbstliebe abbringen. Infolgedessen ist klar, dass die Streitgespräche bezüglich der Gebote (Mitzvot) zwischen Mensch und Schöpfer zu dem Problem des Rechtes der Gesellschaft zu existieren in Bezug stehen. Daher unterstehen sie auch den Rahmenbedingungen des „Folge der Mehrheit“.

Nun verstehen wir auch die unterschiedliche Behandlung von Halacha (jüdisches Gesetzbuch) und Agada (die Sage, eine Art der jüdischen Literatur). Weil nur in der Halacha das Gesetz gilt: „Individuum und Kollektiv, Halacha nach der Mehrheit. Und in der Agada ist es nicht so, da die Angelegenheiten der Agada über den Angelegenheiten, die die Gesellschaft betreffen, stehen. Denn die Gebote der Agada sprechen eben genau von der Verhaltensweise des Menschen, was Mensch und Schöpfer betrifft, und zwar in jenem Bereich, wo Leben und physisches Glück der Gesellschaft keine Bedeutung hat.

Daher gibt es keine Rechtfertigung für die Mehrheit, die Meinung des Individuums zu annullieren, und „jeder Mensch handelte nach seinem eigenen Rechtsempfinden“. Wohingegen bezüglich Halachot (jüdischer Ritus – Gesetze, die sich mit speziellen Themen befassen) festzuhalten ist, dass sie sich mit der Einhaltung der Gesetze der Thora (Mitzvot) befasst, die unter die Aufsicht der Gesellschaft fällt und alle Vorschriften in ihr sind durchgehend dem Gesetz „Folge der Mehrheit“ zugeordnet.

 

Die Gesellschaft sollte dem Gesetz „Tue wie die Mehrheit“ folgen

Nun sind wir zu einem klaren Verständnis hinsichtlich der Aussage über die Freiheit des Individuums gekommen. Denn in der Tat brennt die Frage, wo die Mehrheit das Recht hernimmt, die Freiheit des Individuums zu beschränken und ihm das Kostbarste in seinem Leben zu verweigern – die Freiheit? Scheinbar herrscht hier rein rohe Gewalt vor?

Wie wir jedoch oben ausführlich erklärt haben, ist dies ein Naturgesetz und von der Vorsehung bestimmt. Das kommt daher, weil die Vorsehung uns zwingt, ein Leben innerhalb der Gesellschaft zu führen, und es ist offensichtlich, dass jedermann verpflichtet ist, das Leben und das Wohl der Gesellschaft zu unterstützen. Und dies kann nur durch die Einhaltung der Vorschrift „Folge der Mehrheit“ funktionieren und durch das Hinweggehen über die Meinung des Individuums.

Man sieht daher, dass dies der Ursprung der Rechte und auch die Rechtfertigungen für das Kollektiv ist, die Freiheit des Individuums auch entgegen seinem Willen zu beschränken und es zu unterjochen. Daraus versteht sich von selbst, dass im Hinblick auf all jene Dinge, die mit dem materiellen, gesellschaftlichen Leben nichts zu tun haben, für das Kollektiv kein Recht besteht, das Individuum in irgendeiner Weise seiner Freiheit zu berauben oder seine Freiheit zu missachten. Und wenn das Kollektiv dies doch tut, werden diese Menschen als Räuber und Diebe bezeichnet, die entgegen jeglichem Recht und jeglichem Gesetz der Welt brutale Gewalt anwenden, da in diesem Fall keine Verpflichtung des Individuums den Willen des Kollektivs zu erfüllen besteht.

 

Im Spirituellen gilt das Gesetz „Folge dem Individuum nach“

Dies heißt, insofern es das spirituelle Leben betrifft, gibt es von Seiten der Natur keine Verpflichtung des Individuums, der Gesellschaft zu entsprechen. Ganz im Gegenteil – hier findet ein natürliches Gesetz gegenüber dem Kollektiv Anwendung, sich der Autorität des Individuums zu unterwerfen. Und im Artikel „Frieden“ (Maamar HaSchalom) ist abgeklärt, dass die Vorsehung uns mit zwei möglichen Wegen umgibt und umhüllt, um uns zum Endpunkt, zum Ziel der Schöpfung, zu bringen. Diese sind:

 

  1. Der Weg des Leidens, der uns diese Entwicklung unbewusst auferlegt, ohne uns nach unserer Meinung zu fragen.
  1. Der Weg der Thora (der Kabbalah), durch den wir uns bewusst entwickeln, ohne Qual und ohne Zwang.

 

Und da in jeder Generation zweifellos das Individuum weiter entwickelt ist, bedeutet das, wenn gewöhnliche Menschen sich von ihrer Qual und ihrem Leid befreien wollen, sie sich der bewussten Weiterentwicklung zuwenden müssen – dem Weg der Thora (der Korrektur). Sie haben keine andere Wahl als sich und ihre körperliche Freiheit beiseite zu stellen und dem Individuum Gehorsam zu leisten, die Anordnungen zu befolgen und die Mittel der Heilung, die dieses Individuum ihm anbietet, anzunehmen.

Hier sieht man, dass in spiritueller Hinsicht die Autorität des Kollektivs umgestoßen wird und das Gesetz „Folge dem (entwickelten) Individuum nach“ gültig ist. Denn es ist offensichtlich, dass die Entwickelten und Gebildeten in jeder Gesellschaft eine kleine Minderheit darstellen. Es steht daher fest, dass der Erfolg und das spirituelle Wohl in den Händen einiger weniger liegt.

Das Kollektiv sollte daher die Meinung dieser Wenigen wie seinen Augapfel hüten, damit die Menschen nicht von der Welt hinweggefegt werden. Denn sie müssen ganz sicher und mit absoluter Gewissheit wissen, dass die weiter Fortgeschrittenen und die rechten Ansichten niemals im Machtbereich des Kollektivs liegen, sondern in den Händen der Schwachen, in den Händen einer unauffälligen Minderheit. Denn jede Weisheit und alles Kostbare kommt in kleinen Dosen in die Welt. Daher sollen wir achtsam die Ansichten jedes Individuums schützen, da das Kollektiv unfähig ist, sie falsch oder richtig aufzuzeigen.

 

Urteilsfähigkeit bringt Erfolg, ohne sie kommt es zur Degeneration

Wir müssen weiters erwähnen, dass die Realität unsere Augen für den ungeheuren Widerspruch in physischen Angelegenheiten, in den Konzepten und Ideen obiges Thema betreffend öffnet. Denn was die gesellschaftliche Einigkeit betrifft, die eine Quelle jedermanns Freude und Erfolg sein kann, wird diese nur zwischen Körpern und körperlichen Angelegenheiten praktiziert, und die Getrenntheit zwischen ihnen ist die Quelle jeglichen Unglücks und aller Katastrophen.

Hinsichtlich Konzepten und Ideen jedoch ist das genaue Gegenteil der Fall. Denn Anpassung und mangelndes kritisches Denkvermögen wird als Ursache aller Missinterpretationen und als das größte Hindernis der Fortentwicklung und der befruchtenden Lehre angesehen. Denn die richtige Schlussfolgerung ziehen zu können hängt vorwiegend von der Meinungsvielfalt und ihrer Verifikation ab. Je mehr Widersprüchlichkeiten zwischen Meinungen festgestellt werden und je kritikfähiger, umso größer die Erkenntnisse und das Anwachsen der Weisheit und desto besser können Themen untersucht und Fragen gelöst werden.

Degeneration und Versagen der Intelligenz kommt allein von fehlender Urteilsfähigkeit und mangelndem kritischen Denken. Denn es ist einfach festzustellen, dass die Basis für physischen Erfolg in der Einigkeit der Gesellschaft liegt und die Basis für Weiterkommen hinsichtlich Intelligenz und Wissen in der Verschiedenartigkeit und Meinungsvielfalt unter ihnen.

Daraus ergibt sich das Gesetz, dass wenn die Menschheit hinsichtlich der Körper erfolgreich ist, gemeint ist, die Menschen zum Niveau der vollkommenen Liebe dem Nächsten gegenüber zu bringen, dann werden alle Körper der Welt zu einem einzigen Körper mit einem einig Herz verschmelzen (wie es im Artikel „Frieden“, Maamar HaSchalom, dargelegt ist). Und erst dann wird all das Glück, das für die Menschheit vorgesehen ist, in all seiner Herrlichkeit offenbar werden. Entgegen diesem müssen wir dann aufpassen, die Ansichten der Menschen nicht allzu sehr anzunähern, denn das könnte die Urteils- und Kritikfähigkeit der Weisen beeinträchtigen, da die Liebe zum Körper natürlicherweise auch die Liebe zum Geist mit sich bringt. Und würde die Kritikfähigkeit und Urteilskraft  von der Welt entschwinden, würde auch die Weiterentwicklung der Konzepte und Ideen gestoppt und somit die Quelle des Wissens versiegen.

Das zeigt deutlich auf und beweist vollständig die Verpflichtung, achtsam mit der Freiheit des Individuums hinsichtlich seiner Konzepte und Ideen umzugehen. Denn die ganze Entwicklung basiert auf der Freiheit des Einzelnen. Daher sind wir aufgerufen, sorgsam mit allem in uns umzugehen, das wir „individuell“ nennen und das eine Teilkraft einer Person darstellt, und was allgemein das „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel) bezeichnet wird.

 

Angestammtes Erbe

Alle Einzelheiten, die dieses Verlangen zu empfangen einschließt, das wir als „Grundlage“ oder ersten Faktor bezeichnet haben (es schließt alle von den Vorfahren ererbten Neigungen und Gewohnheiten ein), stellen wir uns wie eine lange Kette vor, die tausende von Menschen, die einmal gelebt haben, umfasst, einer steht über dem anderen und jeder von ihnen ist ein essentieller Funken seiner Vorfahren. Und dieser Funken, den jeder von uns erhält, enthält in sich die spirituellen Besitztümer seiner Vorfahren, welche sich in seiner „Medulla oblongata“ (verlängertes Mark), oder auch Unterbewusstsein genannt, befinden. Das vor uns stehende Individuum trägt daher in seinem Unterbewusstsein all die Tausenden von spirituellen Erbteilen in sich, von allen in der Kette befindlichen Individuen, seinen Eltern und Vorfahren.

Genau so wie das Antlitz jedes Menschen anders ist, so verschieden sind auch ihre Ansichten. Es gibt keine zwei Menschen auf Erden deren Ansichten identisch wären, da jeder einen gewaltig großen Besitz von seinen unzählbaren Vorfahren mitgebracht hat, von dem andere keinen blassen Schimmer haben.

All diese Besitztümer bestimmen die Eigentümlichkeit des Individuums, und die Gesellschaft ist gemahnt, dessen Geschmack und Geist zu schützen, dass sie von seinem Umfeld nicht verwischt werden können, sowie auch die Unversehrtheit des Erbteils jedes einzelnen zu bewahren. Dadurch werden Unterschiedlichkeit und Verschiedenartigkeit zwischen ihnen bestehen bleiben, um die Urteilsfähigkeit und die Weiterentwicklung der Weisheit in alle Ewigkeit abzusichern, was für die Menschheit von Vorteil und ihr wirkliches ewiges Verlangen ist.

Und nachdem wir in einem gewissen Ausmaß die Selbstsucht des Menschen erkannt haben, die wir als „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel) definiert haben (das nach dem Bloßlegen des Wesens sein Kern ist), haben wir auch klar und deutlich das Maß des ursprünglichen Besitztums – welches wir das „angestammte Erbe“ bezeichnet haben – mit all seinen Begrenzungen bestimmt. Und die Bedeutung dessen ist, dass die ganze Kraft der Neigungen und Eigenschaften, die durch Vererbung in seine Grundlage, welche der Hauptbestandteil jedes Menschen ist, gelegt worden sind, dass dies aus dem vorbereitenden Samentropfen seiner Ahnen besteht. Nun sollten wir die zwei Aspekte des Verlangens zu empfangen (Razon Lekabel) erhellen.

Zwei Aspekte:

A)     „Potentielle“ Kraft

B)     „Wirkende“ Kraft

Um nun anfangen zu können, müssen wir verstehen, dass dieses Selbst, welches wir als „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel) definiert haben, obwohl es die Hauptkraft im Menschen ist, in der Realität nicht existieren kann, nicht einmal für eine einzige Sekunde.

Denn es ist dasjenige, was wir als eine „potentielle“ Kraft bezeichnen, welche sich bevor sie sich verwirklicht, nur in unseren Gedanken existiert, d.h. nur die Gedanken können sie festlegen.

Faktum ist – eine reale Kraft ist in der Wirklichkeit niemals inaktiv oder untätig. Denn eine Kraft existiert in unserer Welt nur, wenn sie durch Handlungen offenbart wird. Genauso wie man nicht behaupten kann, dass ein Kleinkind über große Muskelkräfte verfüge, wenn es nicht einmal das kleinste Gewicht heben kann. Man kann aber sagen, dass in diesem Kind, wenn es herangewachsen ist, einmal große Kräfte zu Tage treten werden.

So sagen wir, dass diese Stärke, die im herangewachsenen Menschen vorhanden ist, bereits in seinen Organen und in seinem Körper angelegt war, als er noch ein Kind war. Die Stärke war jedoch verborgen  und offenbarte sich nicht als wirkende Kraft.

Ja – wir können die zukünftige Stärke mit Hilfe der Vorstellungskraft feststellen, denn der Verstand verpflichtet uns dazu. Im gegenwärtigen Körper des Kindes jedoch befindet sich diese Stärke nicht, weil sie nicht durch Handlungen ausgedrückt wird.

Auch mit dem Hunger ist es so. Der Körper des Menschen signalisiert keinen Hunger, wenn die Organe kein Essen aufnehmen können, wenn der Mensch sich satt gegessen hat. Aber auch wenn der Mensch satt ist, gibt es dennoch diese Hunger auslösende Kraft. Sie ist nur momentan im Menschenkörper versteckt. Wenn einige Zeit verstrichen ist und das Essen verdaut ist, kommt sie wieder zum Vorschein und wird von einer potentiellen zu einer wirkenden Kraft.

Und dieses Gesetz einer vorhandenen potentiellen Kraft, die nur noch nicht wirkt, gehört auch zum Prozess eines sich entwickelnden Gedanken. Er existiert nur noch nicht in der Realität, da wenn wir gesättigt sind, wir deutlich fühlen, dass die Kraft, die Hunger auslöst, entschwunden ist und auch wenn wir nach ihr suchen, finden wir sie nirgends.

Daher können wir eine potentielle Kraft nicht als etwas, das inaktiv und ruhend an sich existiert (als Subjekt), vorzeigen, sondern nur als zur Handlung gehörend (als Prädikat) eine Aussage darüber treffen. Das heißt – erst wenn in der Realität, in der Wirklichkeit eine Handlung durchgeführt wirddann, in diesem Moment enthüllt sich diese „Kraft“ in dieser Handlung.

Obwohl aufgrund unserer Schlussfolgerung hier zwei Dinge vorhanden sind – ein Subjekt und eine Handlung (ein Prädikat), d.h. die potentielle Kraft und die wirkende Kraft (wie der Hunger das Subjekt darstellt und die Vorstellung der einzunehmenden Speise das Prädikat und die Handlung  darstellt), erscheinen diese in der Wirklichkeit nur als eines. Niemals wird jemand Hunger empfinden, ohne sich die ersehnten Speisen auszumalen, denn das sind die zwei Seiten einer Medaille.  Die Hunger auslösende Kraft muss in dieses Bild gekleidet werden. Und man muss verstehen, dass die Handlung und der Handlungsträger (Subjekt und Prädikat) zu gleicher Zeit vorhanden oder auch gleichzeitig abwesend sind.

Und es ist klar, dass dieses „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel), als Egoismus von uns bezeichnet, in einem Menschen nicht als eine Verlangenskraft existiert, die in ihrem Ruhezustand (inaktives Prädikat) empfangen möchte. Es geht nur um die Handlung (das Subjekt), wenn  dieses Verlangen sich in die Vorstellung von erwünschten Speisen kleidet und seine wirkende Kraft offenbart sich in der Vorstellung der einzunehmenden Mahlzeit, in die es sich auch kleidet. Und diese Handlung nennen wir  „Verlangen“ (Razon). Das heißt, die Hunger auslösende Kraft zeigt sich im Agieren der Vorstellung.

Und genauso verhält es sich mit unserem Thema - dem allgemeinen „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel), das das Wesen und die Grundlage des Menschen ist. Es zeigt sich und existiert, nur indem es sich in die Hülle von Objekten, die man gerne haben möchte, kleidet. Nur dann existiert es als Subjekt und auf keine andere Weise. Wir bezeichnen diese Handlungen als „Leben“, d.h. „Lebenskraft“ des Menschen und dies bedeutet, dass die Kraft des „Verlangens zu empfangen“ (Razon Lekabel) sich in die ersehnten Objekte kleidet und darin agiert. Und das Maß der Aufdeckung dieser Handlung, die wir „Verlangen“ (Razon) nennen, ist das Maß des Lebens, wie wir erklärt haben.

Zwei Schöpfungen:

A)     Der Mensch

B)     eine lebendige Seele

Aus dem oben ausgeführten können wir den Vers verstehen: „Da machte Gott der Herr den Menschen aus Staub der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch eine lebendige (Chayah) Seele (Nefesch).“ (Genesis 2,7)

Demnach erkennen wir hier zwei Schöpfungen:

A)    Den Menschen selbst

B)     Die lebendige Seele selbst

Und der Vers besagt, dass als der Mensch zuerst aus dem Staub der Erde erschaffen wurde, dies eine Ansammlung von Teilchen war, in der das Wesen ausmachende des Menschen liegt, sein „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel). Dieses Empfangen wollen ist in jedem Partikel der Realität gegenwärtig, wie wir oben geklärt haben, aus denen alle vier Formen ausgehen: unbelebt, pflanzlich, tierisch und sprechend (der Mensch) (Domem, Zomeach, Chaj, Medaber). Aus diesem Blickwinkel betrachtet,  hat der Mensch keine Vormachtstellung gegenüber anderen Teilen der Schöpfung, so wie der Vers besagt: „aus dem Staub der Erde“.

Wie wir gesehen haben, kann diese Kraft, dieses „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel), außerhalb der Einkleidung in ein ersehntes Objekt und der Handlung darin nicht existieren. Und diese Handlung wird „Leben“ genannt. Und demgemäß erkennen wir, dass der Mensch, bevor er nicht die menschliche Form des Empfangens der Freude erreicht hat, die gegenüber dem der Tiere unterschiedlich ist, er als leblos, als tot erachtet wird. Das kommt daher, weil sein „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel) keinen Raum hatte, worin es sich hätte kleiden können und seine Handlungen hätte ausdrücken können, die Ausdruck des Lebens sind.

Und es steht geschrieben: „und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase“ welches die allgemeine Form des Empfangens ist, die für den Menschen passend ist. Dieses Wort „Odem Neschmat“ hat im Hebräischen die Bedeutung von bewerten, schätzen (Schamin)“, d.h. gibt „den Wert“ an. Und die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Odem“ (Neschama) verstehen wir aus diesem Vers: „Der Geist Gottes hat mich gemacht, und der Odem des Allmächtigen hat mir das Leben gegeben“ (Hiob 33,4). Das Wort Seele (Neschama) hat denselben Syntaxbau, das Passiv, wie das Wort „angelegt (Geld)“ (Nifkad), „angeklagt“ (Ne’escham) und so weiter.

Und die Worte „und blies ihm in seine Nase“ bedeuten, dass Er eine Seele (Neschama) und die Würde des Lebens in ihn hinein gelegt hat und das ist die Summe aller Formen, die würdig sind für den Empfang in ihr Verlangen zu empfangen hinein. Dann hat diese Kraft, dieses Verlangen zu empfangen (Razon Lekabel), das in seinen Teilchen eingehüllt war, einen Raum gefunden, um sich in Formen und Handlungen zu kleiden, nämlich in die Formen des Empfangens, die er vom Herrn erhalten hat, und diese Handlung wird, wie wir erklärt haben, „Leben“ genannt.

Und der Vers endet: „Und so ward der Mensch eine lebendige Seele“. Daher hat sich ab dem Punkt, wo das Verlangen zu empfangen (Razon Lekabel) anfängt, im Ausmaß dieser Formen des Empfanges zu handeln, augenblicklich das Leben in ihm enthüllt und er „wurde eine lebendige Seele“. Jedoch vor dem Erreichen dieser Formen des Empfangens, auch wenn die Kraft des „Verlangens zu empfangen“ (Razon Lekabel) in ihm schon eingepflanzt war, wird er noch als lebloser Körper betrachtet, da kein Raum um zu handeln zur Verfügung stand.

Und wie wir oben gesehen haben - obwohl das Wesen des Menschen einzig dieses „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel) ist, wird dies nur als die eine Hälfte des Ganzen betrachtet, da es sich auch in irgendeiner passenden Realität verwirklichen muss. Aus diesem Grund ist das „Verlangen zu empfangen“ (Razon Lekabel) und die Imagination der Besitztümer tatsächlich ein und dasselbe, denn sonst hätte es kein Recht auch nur einen Moment lang zu existieren.

Wenn daher diese Maschine – Körper - auf ihrem Höhepunkt steht, so bis zur Lebensmitte hin, steht das „Ego“ in seinem vollen Umfang und seiner Größe mit allem, was bei der Geburt in es hineingelegt wurde, da. Daher fühlt der Mensch ein riesengroßes Verlangen zu empfangen (Razon Lekabel) in sich, nämlich den Wunsch nach Reichtum und Ehre und allem, was seinen Weg kreuzt. Das ist so, weil das „Ego“ des Menschen so perfekt (voll) ist, dass es Formgebungsmöglichkeiten anzieht, um sich in sie zu kleiden und sich durch sie auszudrücken.

Wenn aber die Hälfte seines Lebens vorüber gegangen ist, kommt die Zeit des Verfalles, die wir als die Tage seines Sterbens bezeichnen. Wir bezeichnen sie so, weil der Mensch nicht in einem einzigen Augenblick stirbt, so wie er in einem bestimmten Augenblick das Licht der Welt erblickte. Sondern sein Lebenslicht, das sein „Ego“ ist, schrumpft und erlischt langsam, Stück für Stück, und damit einhergehend vergehen seine Wunschvorstellungen und Güter, die er empfangen möchte.

Er fängt nun an, viele Dinge, die er sich in der Jugend erträumt hatte, und sogar seine wichtigsten Güter, den fortschreitenden Jahren entsprechend, loszulassen, solange bis er im Alter, wenn der Schatten des Todes über ihn fällt, er sich in der „Zeit, nichts anziehend zu empfinden“ vorfindet. Der Grund dafür liegt im Verblühen und Absterben seines Verlangens zu empfangen (Razon Lekabel), seines „Egos“, und alles was zurückbleibt, ist ein winziger Funken, der vor den Augen verborgen ist, weil er in kein wie auch immer geartetes Gut gekleidet ist. Daher gibt es während dieser Zeit nichts Reizvolles und keine Hoffnung auf irgendeine Art des Empfangens.

So haben wir bewiesen, dass das Verlangen zu empfangen (Razon Lekabel) mit der Imagination des ersehnten Objektes tatsächlich ein- und dasselbe ist. Und ihre Enthüllung ist gleich, ihr Ausmaß ist gleich und so ist es auch mit der Anzahl ihrer Tage. Jedoch in der Zeit des Verfalles des Lebens gibt es einen signifikanten Unterschied in der Art des Aufgebens. Denn das Entschwinden ist kein Ergebnis der Sättigung, sondern eines von Verzweiflung. Es ist festzuhalten, dass wenn das „Ich“ während der Zeit des Verfalles zu sterben beginnt, fühlt der Mensch seine eigene Schwäche und den nahenden Tod. Aus diesem Grund gibt er die Träume und Hoffnungen seiner Jugend auf.

Beachte sorgfältig, dass Entschwinden aufgrund einer Sättigung, das keine Trauer verursacht auch nicht „partieller Tod“ genannt werden kann, sondern es ist so wie bei einem Arbeiter, der seine Arbeit vollendet hat. Durch Verzweiflung verursachtes Aufgeben ist in der Tat mit Pein und Kummer gefüllt und daher kann es auch „partieller Tod“ genannt werden.

 

Die Freiheit vom Engel des Todes

Und nachdem wir dies alles gelernt haben, finden wir auch den Weg, die wahre Bedeutung der Worte unserer Weisen zu verstehen, als sie sagten: „In Stein gemeißelt (harut)“. - Sprich nicht - harut -  “gemeißelt”, sondern vielmehr – herut -  “Freiheit”, denn sie sind vom Engel des Todes befreit. Denn es wurde in den Artikeln „Die Schenkung der Thora“ (Matan Thora) und „Die Bürgschaft“ (Arvut) bereits gesagt, dass sie, bevor sie die Thora empfingen, es auf sich nahmen, jeglichen Privatbesitz im Ausmaß, das in den Worten „ein Königreich von Priestern“ (Mamlechet Kohanim) ausgedrückt ist, zu beschränken. Und sie haben es auch auf sich genommen, den Sinn und Zweck der Schöpfung zu erfüllen, – mit Ihm, durch Angleichung an Ihn, zu verschmelzen. So wie Er schenkt und gibt und nicht empfängt, so wollen auch sie geben und nicht empfangen, was den letzten Grad der Verschmelzung darstellt, ausgedrückt in den Worten „heiliges Volk“, wie es am Ende des Artikels „Die Bürgschaft“ (Arvut) heißt.

Und ich habe euch bereits zu Bewusstsein gebracht, dass die Essenz des Menschen, sein Selbst, das als Verlangen zu empfangen (Razon Lekabel) definiert ist, nur die eine Hälfte ist und nur durch die Einkleidung in die Vorstellung oder Hoffnung auf ein Gut existieren kann. Nur dann ist unser Gegenstand vollständig und kann die Essenz des Menschen genannt werden.

Das bedeutet, dass die Söhne Israels, als sie vollständige Verschmelzung mit der Heiligkeit erreichten, und ihre Gefäße des Empfangens von allen irdischen Gütern völlig entleert waren, mit Ihm durch Gleichheit der Form verschmolzen waren. Das heißt, sie hatten überhaupt kein Verlangen nach eigenen Gütern, außer in dem Ausmaß, um Wohlgefallen erweisen zu können, um dem Schöpfer daran Entzücken zu bereiten.

Und da ihr Verlangen zu empfangen sich in das Bild dieses Objektes gekleidet hat, hat es sich mit der vollständigen Einheit verkettet und sich darin gekleidet. Daher wurden sie gewisslich vom Engel des Todes befreit. Denn Tod ist notwendigerweise ein Aspekt von Abwesenheit und Negation der Existenz eines bestimmten Objektes. Jedoch nur solange da ein Funken existiert, der für sein eigenes Vergnügen existieren möchte, kann behauptet werden, dass dieser Funken nicht existiert und dass er abwesend und tot ist.

Wohingegen, wenn kein solcher Funken im Menschen weilt, sondern alle Funken seiner Essenz darin gekleidet sind, dem Schöpfer Wohlgefallen zu erweisen, dann ist er weder abwesend noch tot. Denn selbst wenn der Körper sich auflöst, löst er sich nur hinsichtlich des Aspektes des Empfangens für Selbstbefriedigung auf, in den das Verlangen zu empfangen (Razon Lekabel) gekleidet ist, und hat nur das Recht durch dieses zu existieren.

Wenn er jedoch dem Ziel der Schöpfung zustrebt und Gott Wohlgefallen an ihm findet, indem Sein Wille erfüllt wird, dann kleidet sich die Essenz des Menschen, in Ihm dieses Wohlgefallen zu breiten, und er erlangt vollkommene Unsterblichkeit, so wie Er. Und dies bedeutet, dass er nun der Freiheit vom Engel des Todes für würdig befunden worden ist. Wie es in Midrasch heißt (Schmot Raba 41 7): „Freiheit (herut) vom Engel des Todes“. Und in Mischna (Massechet Awot 6): „In Stein gemeißelt (harut)”. Sprich nicht - harut -  „gemeißelt”, sondern vielmehr – herut -  „Freiheit”, denn es gibt keinen freien Menschen, außer dem, der Thora (Kabbalah) studiert.“

 

 

 

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