Die Enthüllung der Göttlichkeit
Matan Torah

Rabbi Y. Ashlag (1882-1955)

 

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Levitikus 19, 18)

Rabbi Akiva sagt: Dies ist ein großes Gesetz in der Torah“

 

1.) Diese Aussage verlangt nach Erklärung. Weil das Wort Gesetz (im Hebräischen bedeutet das Wort Gesetz auch das Ganze – C.R.) eine Summe von Einzelheiten meint, die zusammengenommen das Ganze formen. Es zeigt sich, dass wenn er von der Mitzvah des „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ als einem großen Gesetz in der Torah spricht, müssen wir verstehen, dass alle anderen 612 Mitzvot (Gebote) in der Torah mit all ihren Interpretationen nichts mehr oder weniger sind als die Summe der Einzelheiten, die in der alleinigen Mitzvah des „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ eingefügt und enthalten sind.

 

2.) Und während wir uns möglicherweise noch bemühen einen Weg zu finden, ihre Worte in Einklang zu bringen, stehen wir einem zweiten Ausspruch gegenüber, der noch auffälliger ist, über einen Bekehrten, der vor Hillel trat und ihn bat: „Lehre mich die gesamte Torah, während ich auf einem Bein stehe“. Und er antwortete: „Alles was du hasst, das tue deinem Freund nicht an“, ( die aramäische Übersetzung von “liebe deinen Nächsten wie dich selbst”) und der Rest bedeutet: geh’ und studiere. Hier vor uns ist es ein eindeutiges Gesetz (Halacha), in allen 612 Geboten und den gesamten Schriften der Torah gibt es nichts, was dem Gebot des „liebe deinen Nächsten wie dich selbst vorgezogen wird, da er ausdrücklich sagt – „der Rest bedeutet: geh’ und studiere“. Dies bedeutet, dass die übrige Torah Interpretationen dieses einen Gebotes sind, welches ohne sie nicht vollständig sein kann.

 

3.) Ehe wir uns in das Herz dessen vertiefen, sollten wir dieses Gebot sorgsam betrachten, so wie uns gesagt wird – “liebe deinen Nächsten wie dich selbst”. Das Wort „dich selbst“ sagt uns, dass man seinen Freund im selben Maße lieben soll, wie man sich selbst liebt, und keinesfalls weniger als das. Dies bedeutet, dass wir ständig darüber wachen sollen, die Bedürfnisse eines jeden Einzelnen der Nation Israel zu befriedigen, genau wie wir über unser eigenes Wohl wachen. Das ist absolut unmöglich, da es nicht viele Menschen gibt, die während ihrer täglichen Arbeit ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen können, wie kann man ihnen also sagen, sie sollten sich bemühen, die Wünsche einer ganzen Nation zu befriedigen? Und wir können nicht annehmen, dass die Torah übertreibt, da sie uns davor warnt etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen, um zu demonstrieren, dass diese Worte und Gesetze mit äußerster Präzision gegeben wurden.

 

4.) Und wenn dies noch nicht ausreicht, lassen Sie mich sagen, dass die einfache Erklärung dieses Gebots von der Liebe zu Ihrem Gegenüber noch strenger ist – dass wir die Bedürfnisse unserer Freunde vor unsere eigenen stellen müssen, wie unsere Weisen geschrieben haben angesichts des Verses “weil ihm wohl bei dir ist“ (Deuteronomium 15, 16), in Bezug auf den hebräischen Sklaven: Manchmal, wenn er nur ein Kissen hat, und sich selbst darauf legt und es nicht seinem Sklaven gibt, so befolgt er die Regel „weil ihm wohl bei dir ist“ nicht, da er auf einem Kissen liegt und der Sklave auf dem Boden. Und wenn er sich selbst nicht darauf legt und es auch nicht seinem Sklaven gibt, so ist es eine Sodomiten-Regel. Hieraus ergibt sich, dass er es gegen seinen Willen seinem Sklaven geben muss, während der Herr selbst auf dem Boden liegt.

Wir finden die selbe Anweisung in dem Satz über das Maß der Liebe zu unserem Nächsten, da auch hier die Befriedigung der Bedürfnisse des Freundes mit der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse verglichen wird, genau wie am Bespiel des “weil ihm wohl bei dir ist” in Bezug auf den hebräischen Sklaven. So auch hier, wenn er nur einen Stuhl hat und sein Freund keinen hat, gibt es den Urteilsspruch, dass wenn er darauf sitzt und ihn nicht seinem Freund gibt, so bricht er das Gebot des „liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, weil er die Bedürfnisse seines Freundes nicht stillt wie er seine eigenen stillt. Und wenn er selbst nicht darauf sitzt und ihn auch nicht seinem Freund gibt, so ist dies so schlecht wie das Gesetz der Sodomiten. Aus diesem Grund muss er seinen Freund darauf sitzen lassen und er selbst muss entweder stehen oder auf dem Boden sitzen. Es wird so verstanden, dass dies das Gesetz im Hinblick auf alle Bedürfnisse ist, über die er verfügt und an denen es seinem Freund mangelt. Und nun gehe hin und schau ob dieses Gebot in irgendeiner Weise ausführbar ist.

 

5.) Wir müssen zunächst verstehen, warum die Torah der Nation Israel gegeben wurde und nicht allen Völkern der Erde. Ist hier, Gott bewahre, Nationalismus im Spiel? Natürlich würde nur ein kranker Geist so etwas denken. In der Tat haben unsere Weisen diese Frage untersucht, die darin besteht, was mit den Worten gemeint ist: „Gott gab sie jeder Nation und Zunge und sie empfingen sie nicht”.Aber was sie verwirrend finden, ist die Frage, warum wir dann aber das auserwählte Volk genannt werden, da es heißt: “Dich hat der HERR, dein Gott, erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind.“ (Deuteronomium 7, 6), vielleicht weil es keine andere Nation gab, die dies wollte? Kann es darüber hinaus sein, dass der Herr mit der Torah in Seinen Händen kam, um mit jenen unzivilisierten Völkern zu verhandeln? Von so etwas hat man niemals gehört, und dies ist vollkommen unakzeptabel.

 

6.) Aber wenn wir die Essenz der Torah und Mitzvot, die uns gegeben wurden, und ihren beabsichtigten Zweck vollständig verstehen, so wie unsere Weisen uns darin unterwiesen haben, was das Ziel der großen Schöpfung vor unseren Augen ist, so werden wir alles verstehen. Denn das erste Postulat ist, dass es keine Handlung ohne eine Absicht gibt. Und darin gibt es keine Ausnahme abgesehen von den untersten Wesen der Gattung Mensch oder den Kindern. Aus diesem Grund ist es sicher, dass der Schöpfer, dessen Erhabenheit jenseits aller Vorstellungskraft liegt, keine Tat ohne Absicht vollführt, sei es eine große oder kleine Tat.

Unsere Weisen erzählen uns davon, dass die Welt nicht allein in der Absicht geschaffen wurde, die Torah und Mitzvot zu befolgen, was bedeutet, so wie unsere Weisen uns lehrten, dass es das Ziel des Schöpfers seit der Zeit ist, in der Er Seine Schöpfung schuf, Seine Göttlichkeit anderen zu enthüllen. Da die Enthüllung Seiner Göttlichkeit das Geschöpf wie eine freundliche Spende erreicht, die immer größer wird, bis sie das ersehnte Maß erreicht. Und auf diesem Weg steigen die Unteren empor in der wahren Erkenntnis und werden zu einem Triumphwagen der zu Ihm führt, und sie bleiben Ihm treu, bis sie ihre letzte Vollkommenheit erreichen: „Und kein Auge hat gesehen einen Gott außer dir.“ (Jesaja 64, 3). Und aufgrund der Größe und Glorie dieser Vollkommenheit vermieden, sowohl die Torah als auch die Prophezeiung, ein einziges Wort der Übertreibung zu äußern, wie unsere Weisen sagten: „All unsere Propheten machten ihre Prophezeiungen allein für die Tage des Messias, allein für die nächste Welt, und das Auge hat keinen Gott gesehen außer dir“. 

Diese Vollkommenheit ist in den Worten der Torah und der Prophezeiungen und in den Worten unserer Weisen mit dem einfachen Begriff “Anhaftung“ ausgedrückt. Jedoch vom allgemeinen Gebrauch des Wortes durch die Massen hat es fast allen Gehalt verloren. Wenn wir aber unseren Geist für einen Augenblick auf dieses Wort richten, werden wir überwältigt sein von seiner wunderbaren Gestalt, denn wenn wir uns die Erhabenheit des Schöpfers ausmalen und die Niedrigkeit der Kreaturen, können wir verstehen, was Hingezogensein der Geschöpfe zum Schöpfer bedeutet, und warum wir dieses Wort dem Sinn der gesamten Schöpfung zuordnen.
Es zeigt sich, dass das Ziel der gesamten Schöpfung darin besteht, dass die unteren Geschöpfe befähigt werden, durch das Befolgen von Torah und Mitzvot, immer weiter aufzusteigen, bis sie die Einheit mit dem Schöpfer erreichen.

7.) Aber an dieser Stelle kommen die Kabbalisten und fragen: Warum wurden wir nicht in dieser hohen Form des Ihm Anhaftens von Anfang an geschaffen? Welchen Grund hatte Er, uns diese Last und Mühe der Schöpfung sowie Torah und Mitzvot zu geben? Und sie antworteten: “Derjenige, der das was nicht ihm gehört, isst, hat Angst in sein Gesicht zu sehen“, was bedeutet, dass derjenige, der isst und die Arbeit seines Freundes genießt, davor Angst hat, in sein Gesicht zu sehen, weil er dadurch mehr und mehr erniedrigt wird, bis er alle Menschlichkeit verliert. Und da das, was sich von Seiner Vollkommenheit ausdehnt, nicht fehlerhaft sein kann, gab Er uns Raum unsere eigene Erhabenheit zu verdienen, durch unsere Arbeit in Torah und Mitzvot.

Diese Worte haben eine große Tiefe und ich habe sie bereits in meinem Buch “Panim Me’irot und Masbirot zum Baum des Lebens auf dem ersten Zweig” und in dem Buch “Talmud Eser Sefirot – Innere Reflexion Teil 1“ besprochen. Hier möchte ich sie in Kürze erklären, um sie für alle verstehbar zu machen.

 

8.) Es ist wie mit einem reichen Mann, der einen einfachen Arbeiter zu sich nimmt, ihn ernährt, ihm Gold und Silber und alles Wünschenswerte Tag für Tag gibt. Und an jedem folgenden Tag überschüttet er ihn mit mehr Geschenken als am Tag zuvor.Schließlich fragt der Reiche:“ Sage mir, haben sich all deine Wünsche erfüllt?“ Und der einfache Arbeiter antwortet, „noch nicht, denn wie angenehm und wunderbar wäre es, kämen all diese Besitztümer und kostbaren Dinge durch meine eigene Arbeit zu mir, so wie sie zu dir kamen, und würde ich nicht die Wohltätigkeit aus deiner Hand empfangen.“ Der reiche Mann antwortete ihm darauf:“ Was dies anbetrifft, wurde niemals ein Mensch geboren, der deine Wünsche befriedigen könnte.“

Es ist eine natürliche Sache, weil er einerseits große Freude erfährt und es mehr und mehr genießt, dass der Reiche ihn mit Geschenken überschüttet, aber andererseits ist es schwer für ihn, die Scham vor der extremen Güte, mit der der Reiche ihn beschenkt, zu erdulden. Dies geschieht, weil es ein natürliches Gesetz gibt, dass der Empfänger Scham und Ungeduld empfindet, wenn er Geschenke umsonst von einem Geber aus Mitgefühl und Mitleid empfängt. Von hier dehnt sich ein zweites Gesetz aus, dass niemals irgend jemand in der Lage sein wird, die Bedürfnisse seines Freundes vollständig zu erfüllen, weil er ihm letztlich den Charakter und die Gestalt des Selbst-Besitzens nicht geben kann, und dass nur damit die ersehnte Erfüllung erreicht werden kann.

Aber dies bezieht sich allein auf die Geschöpfe, wohin gegen dies in Bezug auf den Schöpfer komplett unmöglich und unakzeptabel ist. Und dies ist der Grund dafür, warum Er für uns die Plage und Mühe mit Torah und Mitzvot vorgesehen hat, damit wir unsere Erhabenheit durch uns selbst bewirken, weil dann die Freude und das Vergnügen, die von Ihm zu uns kommen, damit ist alles gemeint was in der Einheit mit Ihm enthalten ist, sämtlich aus unserem eigenen Besitz entstammen, und durch unser eigenes Bemühen zu uns gekommen sind. Dann würden wir uns selbst als die Besitzer empfinden, ohne das ein Gefühl der Ganzheit nicht möglich wäre.

 

9.) In der Tat ist es nötig, das Herz und den Ursprung jenes Naturgesetzes zu untersuchen, und wer es ist, der den Makel der Scham und der Ungeduld zeugte, den wir empfinden, wenn wir Wohltätigkeit von jemandem empfangen. Eine wissenschaftliche Gesetzmäßigkeit lehrt uns, dass jeder Zweig die selben Eigenschaften in sich trägt wie seine Wurzel, und dass das Verhalten der Wurzel ebenso vom Zweig gewünscht, gesucht und ersehnt wird. Und dagegen, von allen Verhaltensweisen, die nicht in der Wurzel bestehen, distanziert sich ihr Zweig und kann diese nicht ertragen und nimmt von ihnen Schaden. Dieses Gesetz wird zwischen jeder Wurzel und jedem Zweig gefunden und kann nicht durchbrochen werden. 

Nun öffnet sich uns eine Tür, die Quelle aller Freuden und Leiden, die in dieser Welt bestehen, zu verstehen. Da der Herr die Wurzel seiner Schöpfungen ist, empfinden wir alles, das in Ihm wohnt und zu uns direkt von Ihm ausgedehnt wird, als angenehm und wohltuend, weil unsere Natur unserer Wurzel nahe ist.

Verhaltensweisen, die Ihm nicht innewohnen, und die nicht direkt von Ihm ausgedehnt werden, in Übereinstimmung mit den Gegensätzen der Schöpfung selbst, sind gegen unsere Natur und für uns nur schwer zu erdulden. Zum Beispiel lieben wir es uns auszuruhen und hassen es, uns so viel zu bewegen, so dass wir nicht einen einzigen Schritt tun, wenn er nicht dazu dient, Ruhe zu erlangen. Das ist so, weil unsere Wurzel unbeweglich und in konstanter Ruhe ist und in Ihm keine Bewegung existiert, Gott bewahre. Deshalb hassen wir dies und es geht ebenso gegen unsere Natur.

Auf die gleiche Art und Weise lieben wir Weisheit, Stärke und Wohlstand, weil all dies Ihm innewohnt, der unsere Wurzel ist. Und deshalb hassen wir ihre Gegenteile, wie Dummheit, Schwäche und Armut, weil diese in Ihm nicht bestehen, was uns dazu führt, zu hassen und in unerträglicher Weise zu verletzen.

 

10.) Das ist es, was bei uns den faulen Geschmack von Scham und Ungeduld erweckt, wenn wir von anderen auf dem Weg der Wohltätigkeit empfangen, weil es im Schöpfer, Gott bewahre, nichts dergleichen wie das Empfangen von Gefälligkeiten gibt, denn von wem kann Er empfangen? Und weil dieses Element in unserer Wurzel nicht existiert, empfinden wir es als abstoßend und widerlich. Auf der anderen Seite fühlen wir Vergnügen und Freude mit jeder Gabe, mit der wir andere beschenken, da dieses Merkmal in unserer Wurzel besteht, die mildtätig ist.

 

11.) Nun haben wir einen Weg gefunden, das Ziel der Schöpfung zu untersuchen, das ein „Ihm Anhaften“ in seiner wahren Erscheinungsform ist. Diese Erhabenheit und Nähe, die uns durch die Arbeit in Torah und Mitzvot gewährt wird, ist nicht mehr oder weniger als die Äquivalenz der Zweige mit ihrer Wurzel, von welcher jegliche Güte und Freude und Erhabenheit eine natürliche Ausdehnung ist, so wie wir weiter oben erwähnten, dass die Freude lediglich in Äquivalenz der Form mit dem Schöpfer ist. Und wenn wir jede Handlungsweise, dem was in unserer Wurzel ist angleichen, so empfinden wir Freude, und alles, das nicht in unserer Wurzel ist, wird für uns unerträglich, abscheulich oder ziemlich schmerzhaft. Und wir kommen ganz natürlich zu der Überzeugung, dass unsere Hoffnung vom Maß unserer Übereinstimmung mit unserer Wurzel abhängt.

 

12.) Dies waren die Worte unserer Weisen, wenn sie fragten: “Warum sollte es Gott kümmern, ob man ein Tier am Hals oder am Nacken schlachtet?” Letzten Endes wurden die Mitzvot gegeben, um den Menschen zu reinigen und reinigen bedeutet das Reinigen des dunklen Körpers, welches die Absicht ist, die durch die Beachtung der Mitzvot entsteht.

„Kann ein junger Wildesel als Mensch zur Welt kommen?“ (Hiob 11, 12), denn wenn er aus dem Schoß der Schöpfung kommt, befindet er sich in äußerstem Schmutz und Niedrigkeit, womit ein Übermaß an Selbstliebe gemeint ist, die in ihn eingraviert ist, und sich alles um ihn selbst dreht, ohne den geringsten Teil anderen zu schenken.In dieser Situation befindet er sich in der größten Distanz zur Wurzel, am anderen Ende, da die Wurzel nur aus Schenken besteht ohne eine Andeutung des Empfangens, wohin gegen das Neugeborene ganz aus Empfangen besteht ohne eine Andeutung des Schenkens. Aus diesem Grund wird seine Situation als die unterste Stufe an Niedrigkeit und Schmutz angesehen, die es in unserer Welt gibt.

Wenn er heranwächst, erhält er von seiner Umwelt Anteile des „Schenkens an andere“, abhängig von den Werten und der Entwicklung seiner Umgebung. Dann wird er in Torah und Mitzvot eingeführt zum Zweck der Selbstliebe, für die Belohnung in dieser Welt und in der nächsten, nicht um Ihres Namens willen genannt, da er mit keiner anderen Weise vertraut ist.

Durch das natürliche Hilfsmittel des Studiums von Torah und Mitzvot um Ihres Namens willen, das der Spender der Torah kennt, wie unsere Weisen sagen: “Der Schöpfer sprach: Ich habe die schlechte Neigung geschaffen, ich habe die Torah als ein Gewürz geschaffen”, damit das Geschöpf sich entwickelt und stufenweise aufsteigt zur oben erwähnten Erhabenheit, bis es alle Überbleibsel an Selbstliebe verliert und sich sämtliche Mitzvot in seinem Körper erheben und es alle Handlungen allein um zu Schenken durchführt, d.h. so dass es in der Lage ist zu schenken. Und dies ist, was unsere Weisen sagten: „Die Mitzvot wurden allein gegeben, um den Menschen zu reinigen”.

 

13.) Die Torah besteht aus zwei Teilen: 1) Mitzvot zwischen dem Menschen und Gott, und 2) Mitzvot zwischen dem Menschen und seinem Nächsten, und beide zielen auf die selbe Sache – das Geschöpf zu dem letztendlichen Ziel zu bringen – der Nähe zu Ihm.

Außerdem ist auch die praktische Seite von beiden in der Tat ein und das selbe, denn wenn jemand eine Handlung um Ihres Namens willen ausführt, ohne eine Beimischung an Selbstliebe, was bedeutet ohne jeglichen Nutzen für sich selbst zu finden, dann empfindet derjenige keinen Unterschied darin, ob er sich bemüht um seinen Freund zu lieben, oder um den Schöpfer zu lieben. Dies ist so, weil es für jedes Wesen ein Naturgesetz ist, alles außerhalb des eigenen Körpers als unwirklich und leer anzusehen, und dass jede Bewegung, die ein Mensch macht um seinen Nächsten zu lieben, er mit einem wiederkehrenden Licht ausführt und er dafür eine Belohnung erhalten wird, die letztlich zu ihm zurückkehren und zu seinem eigenen Nutzen sein wird. Deshalb kann eine Handlung nicht als „Nächstenliebe“ angesehen werden, da sie durch ihren Ausgang beurteilt wird und sie wie eine Miete ist, die letzten Endes nicht gezahlt wird. Jedoch wird der Vorgang des Mietens nicht als Nächstenliebe angesehen.

Es ist jedoch komplett unmöglich, irgend eine Art von Bewegung allein als Resultat aus der Liebe zu anderen aufzuführen, d.h. ohne einen Bruchteil von wiederkehrendem Licht und ohne Hoffnung auf irgend eine Art von Befriedigung für sich selbst. Darüber wird im Sohar gesagt, dass „jeder Akt der Gnade, den sie vollziehen, nur für sie selbst ist“.

Das bedeutet, dass alle guten Taten, die sie verrichten, sei es ihren Freunden oder ihrem Gott gegenüber, nicht aus Nächstenliebe sondern aus Selbstliebe geschehen. Und dies geschieht, weil es völlig unnatürlich ist.Aus diesem Grund sind nur diejenigen, die Torah und Mitzvot befolgen, dazu qualifiziert, da indem sie sich daran gewöhnen Torah und Mitzvot zu befolgen, um ihrem Schöpfer Zufriedenheit zu bringen, sie sich allmählich aus dem Schoß der natürlichen Schöpfung entfernen und eine zweite Natur erlangen, nämlich die oben erwähnte Nächstenliebe.

Dies brachte die Kabbalisten des Sohar dazu, die Nationen der Welt von der Frage der Nächstenliebe auszuschließen, wenn sie sagten, dass „jeder Akt der Gnade, den sie vollziehen, nur für sie selbst ist“, da sie nicht damit beschäftigt sind, Torah und Mitzvot um Ihres Namens willen zu befolgen, und der Grund ihres Bemühens um ihre Götter Belohnung und Zuversicht in dieser Welt und in der nächsten ist. So geschieht ihr Bemühen um ihre Götter auf Grund von Selbstliebe, und sie werden niemals etwas vollbringen oder bewegen, das außerhalb den Begrenzungen ihrer eigenen Körper liegt, weshalb sie nicht in der Lage sein werden, sich auch nur eine Haaresbreite über ihre einfaches Wesen zu erheben. 

 

14.) Da dies so ist, ist es angemessen zu denken, dass der Teil der Torah, der von der Beziehung des Menschen zu seinem Freund handelt, eher dazu geeignet ist, uns zum gewünschten Ziel zu bringen, da die Arbeit in Mitzvot zwischen uns und dem Herrn festgelegt und spezifisch ist und man sich leicht daran gewöhnt und alles, das aus Gewohnheit getan wird, nicht länger nützlich ist, wohingegen die Mitzvot zwischen uns und unserem Nächsten sich verändern und unregelmäßig sind und es ständig neue Anforderungen gibt, wohin man sich auch wendet. Deshalb ist ihr Vorteil sehr viel nutzbringender und sicherer und ihr Ziel liegt näher.

 

15.) Nun können wir die Worte von Hillel Hanasi zu Giora verstehen, dass dies die Essenz der Torah ist: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, und die übrigen sechshundert und zwölf Mitzvot sind nichts als Interpretationen davon. Selbst die Mitzvot zwischen Mensch und Gott werden als eine Modifizierung dieser Mitzvah angesehen, was das letztliche Ziel der Torah und Mitzvot ist, wie unsere Weisen sagten: „Torah und Mitzvot wurden nicht gegeben, es sei denn um Israel mit ihnen zu reinigen“, welches das Reinigen des Körpers ist, bis man eine zweite Natur erlangt, die durch unsere Liebe zu anderen definiert wird, womit das eine Gebot des „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ gemeint ist, welches das letztendliche Ziel der Torah ist, nach dem man unmittelbar die Einheit mit Ihm erlangt.

Aber man sollte sich nicht fragen, warum es nicht mit den Worten definiert ist: „Und du sollst den HERRN, deinen Gott, liebhaben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ (Deuteronomium 6,5). Dies ist so, weil in der Tat für den Menschen, der sich noch in mitten der Natur der Schöpfung befindet, es keinen Unterschied zwischen der Liebe zu Gott und der Liebe zu seinem Nächsten gibt, da alles, was er nicht selbst ist, für ihn unwirklich ist. Und aus diesem Grund bat der Bekehrte Hillel Hanasi, ihm das gewünschte Ziel der Torah zu erklären, so dass er sein Ziel mit Leichtigkeit erlangen könne, ohne dass er einen langen Weg zurücklegen müsste um es zu erreichen, als er sagte: „lehre mich die gesamte Torah, während ich auf einem Bein stehe“. Deshalb definierte er es für ihn als die Liebe zum Freund, weil das Ziel näher liegt und schneller enthüllt werden kann, da es sicherer vor Fehlern ist und es ihrer bedarf.

 

16.) In den vorangegangen Worten finden wir einen Weg unseren Begriff von oben (Kapitel 3 und 4) über dieses Gebot des “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” zu verstehen, wie die Torah uns zwingt etwas zu tun, das nicht getan werden kann.

Bedenken Sie tatsächlich, dass aus diesem Grund die Torah nicht unseren Urvätern – Abraham, Isaak und Jakob – gegeben wurde, sondern dass es bis zum Auszug aus Ägypten dauerte, und bis sie eine Nation von sechshunderttausend Menschen mit einem Alter von mehr als zwanzig Jahren wurden. Dann wurde jedes Mitglied der Nation gefragt, ob es dieser erhabenen Arbeit zustimmt, und als dem alle mit Herz und Seele zustimmten und sagten: „Alles, was der HERR gesagt hat, wollen wir tun und darauf hören” (Exodus 24, 7), dann wurde es möglich die gesamte Torah zu befolgen, das was zuvor unmöglich erschien, wurde möglich.

Da es sicher ist, dass wenn sechshunderttausend Menschen ihre Arbeit zur Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse verlassen und sich um nichts weiter mehr sorgen als darüber zu wachen, dass es ihren Freunden niemals an etwas fehlt, und darüber hinaus, dass sie dies mit einer mächtigen Liebe in ihren Herzen und in ihrer Seele befolgen, in der vollen Bedeutung des Gebotes „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, dann besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass kein Mensch dieser Nation sich um sein eigenes Wohlsein sorgen muss.

Aus diesem Grund wird er völlig frei davon, für sein eigenes Überleben Sorge zu tragen und er kann das Gebot “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” leicht befolgen, in dem er alle Bedingungen, die in Kapitel 3 und 4 gegeben sind, beachtet. Warum sollte er sich nach all dem um sein eigenes Überleben sorgen, wenn sechshunderttausend loyale Liebende bereit stehen um mit großer Fürsorge sicherzustellen, dass es ihn an nichts fehlt?

Deshalb, sobald alle Mitglieder der Nation zugestimmt hatten, wurde ihnen unmittelbar die Torah gegeben, da sie nun in der Lage waren sie zu befolgen. Aber ehe sie eine vollständige Nation wurden und sicherlich durch die Ära unserer Väter hindurch, die die einzigen im Land waren, waren sie dafür qualifiziert, die Torah in der erwünschten Form wahrhaft zu befolgen. Dies ist so, weil es mit einer geringeren Anzahl von Menschen unmöglich ist, auch nur mit der Sache der Mitzvot zwischen dem Menschen und seinem Freund in der Form des “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” zu beginnen, wie wir es in den Kapiteln 3 und 4 erklärt haben. Deshalb wurde ihnen die Torah nicht gegeben.

 

17.) Von all dem Vorangegangenen können wir einen der meist verblüffendsten Sätze unserer Gelehrten verstehen: Der Satz, dass ganz Israel für einander verantwortlich ist, was völlig ungerechtfertigt erscheint, denn ist es möglich, dass wenn jemand gesündigt hat oder ein schweres Verbrechen begangen hat, das den Schöpfer erzürnt, und er keine Kenntnis von ihm hat, der Herr dessen Schulden bei dir eintreiben wird? Es heißt: „Die Väter sollen nicht für die Kinder noch die Kinder für die Väter sterben, sondern ein jeder soll für seine Sünde sterben.“ (Deuteronomium 24,16) Wie kann man also sagen, dass man selbst für die Sünden desjenigen verantwortlich ist, der ein völliger Fremder ist, von dem oder von dessen Lebensumständen man nichts weiß?

Wenn Ihnen das noch nicht ausreicht, so berichten unsere Gelehrten: “Rabbi Elazar, der Sohn von Rabbi Shimon sagt: Da die Welt von ihrer Mehrheit beurteilt wird und der einzelne Mensch von seiner Mehrheit beurteilt wird, wenn er eine Mitzvah durchführte, so hätte er die ganze Welt rechtschaffen gemacht, und wenn er eine Sünde beginge, hätte er die gesamte Welt zu Sündern gemacht, da es heißt: Ein Sünder wird viel Gutes verlieren“.

So machte mich Rabbi Elazar, der Sohn von Rabbi Shimon, verantwortlich für die ganze Welt, da er denkt, dass die gesamte Welt für einander verantwortlich ist und jeder Mensch der gesamten Welt Gutes oder Sünde bringt. Das ist in der Tat verblüffend.

Gemäß diesen Worten können wir ihre Worte ganz einfach verstehen, da wir gezeigt haben, dass jede der sechshundertdreizehn Mitzvot sich um diese eine Mitzvah des „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ dreht. Und wir denken, dass ein solcher Zustand nur in einer Nation bestehen kann, deren sämtliche Mitglieder dem zustimmen.

 

 

 

Übersetzung von  Martina Spriestersbach

 

 

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