Das Wesentliche der Philosophie
Friedrich Weinrebs

Doktorarbeit für den Doktorgrad
"Doktor der Philosophie"
von Israel Koren

Vorgelegt beim Senat der "Hebrew University"  - April 1996

Übersetzung aus dem Englischen von Peter Staaden

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KURZFASSUNG

Friedrich Weinreb ist ein philosophischer Kommentator der Bibel und der begleitenden jüdischen mündlichen Überlieferung. Als solcher unterscheidet er sich von den meisten jüdischen Denkern des 20.Jahrhunderts, die sich mehr mit der gesamten Konzeption der Bedeutung des Judentums sowie des Wertes dieser Quellen beschäftigen, und weniger mit einer strukturierten und systematischen Erklärung der Bibel. Obgleich Martin Buber, auf der Suche nach ihrem innewohnenden ewigen Gehalt, einige Bücher über die Heilige Schrift schrieb, liegt der Unterschied zwischen Buber und Weinreb in der Tatsache, dass sich Bubers Kommentare der Bibel von den Schlussfolgerungen, die er durch die Wissenschaft des Bibelstudiums erreichte, herleiten, selbst wenn er einigen von ihnen widerspricht. Weinrebs Erläuterung der Quellen, stellt demgegenüber grundsätzlich eine einschließende Kommentarmethode und einen semantischen Dreh- und Angelpunkt dar, der fast völlig den Ausgangspunkt und die Schlussfolgerungen der wissenschaftlichen Studien der Bibel verneint.

Ich definiere Weinreb als philosophischen Kommentator der jüdischen Quellen, da Weinreb in der jüdischen mündlichen Überlieferung den Schlüssel zum Verstehen des menschlichen Lebens, sowie unserer Passage auf der Erde, in einem immerwährenden Sinne sieht, der auch nicht durch die historische Periode begrenzt wird, in der die Heilige Schrift erstellt wurde. Diesbezüglich weicht Weinreb von der Tendenz ab, die bereits mit Spinoza beginnt und einige Wurzeln im Mittelalter hat, die alten Texte von einer historischen, entwicklungsgemäßen Perspektive aus zu beurteilen und zu diskutieren. Nach Weinrebs Meinung ist es die synchronische, und nicht die diachronische Dimension, die zu einem wirklichen Verständnis der Lehren innerhalb der mündlichen Tradition führt.

Weinreb befasst sich nicht damit, die Heilige Schrift von einem historischen Standpunkt aus, oder mittels philologischer und kritischer Methoden, in einem zeitgenössischen Sinne zu erklären. Diese Methoden der Analyse waren für die letzten zweihundert Jahre auf dem Gebiet der Bibelforschung allgemein gültig gewesen. Daher kann er nicht als Forscher in der modernen Bedeutung dieses Wortes, jedoch als philosophischer Kommentator definiert werden. Die Kommentare Weinrebs haben weder nationale Tendenzen, noch sind sie besonders an jüdische Leser gerichtet. Die symbolische Vorgehensweise Weinrebs neutralisiert vollständig nationale Konnotationen in der Bibel, die er als ein Universaldokument wahrnimmt, das für alle Völker existiert. Konzepte wie 'ein Jude', 'ein Hebräer' und 'Israel' sind Symbole für mentale Tendenzen und Einstellungen gegenüber der Wirklichkeit.

Obgleich Weinreb zur gleichen Zeit über Jahre hinweg für die Gründung des Staates Israels lebte und arbeitete, hat der Zionismus keinen speziellen Platz in seiner Arbeit. Alle Betrachtungen Israels, die in der Heiligen Schrift erwähnt werden, sind Vorstellungen, die eine symbolische Signifikanz beinhalten. Wie noch sichtbar werden wird, ist diese Tendenz ein Teil von Weinrebs gesamter Annäherung an die Heilige Schrift, in der die Inhalte der Heiligen Schrift nicht vollständig mit der natürlichen Wirklichkeit von Zeit und Ort zusammenpassen.

Weinrebs Kommentarstil wird durch die Integration der unterschiedlichen Quellen, wie der Bibel und der mündlichen Überlieferung, sowie durch die Kombination von Kommentarmethoden gekennzeichnet, die aus dem Altertum und dem Mittelalter stammen, die aber durch Weinreb, passend zu einem zeitgenössischen Denker, umgestaltet werden. Auf dieser Grundlage, die Kommentarmethoden, wie die symbolische Perspektive, Typologie, Archetypen und die Verbindung zwischen Zeichen und Zahlen kombiniert, schafft Weinreb eine umfassende Methodik des Kommentars, der auf die ganze heilige Literatur des Judentums anwendbar ist, und, nach seiner Auffassung, die grundlegenden Strukturen aufdeckt, die in diesen Schriften und im Leben selbst vorhanden sind.

Weinrebs Kommentare entwickelten sich auf der Grundlage der deutschen Philosophie und der Psychologie des Unterbewusstseins. Er kombiniert die besondere Betonung des Wertes der Träume und ihrer Stellung im Unterbewussten des Menschen, mit seiner Erläuterung zur Bibel, dem Talmud und der Kabbala, und fügt damit eine beträchtliche Aussagekraft zur archetypischen Betrachtungsweise hinzu. Weinreb stellt eine ursprüngliche Art des Denkens dar, welches die systematische Überlegung kombiniert, geeignet für jemanden der in einer wissenschaftlichen Welt aufwuchs, sowie eine esoterische Einstellung gegenüber der Heiligen Schrift und des Lebens an sich postuliert.

Die Behauptungen Weinrebs, bezüglich des ewigen Wertes der Bibel, sowie der Lehren des Talmud und der homiletischen Interpretationen sind nicht neu. Man kann diese Art der Argumentation bis zu Philon von Alexandria, sowie zu Maimonides und den jüdischen Mystikern zurückverfolgen. Ihre jeweilige Auswertung des Ewigen unterscheidet sich jedoch bedeutend. Beide, Philon von Alexandria und Maimonides, jeder in seiner eigenen Weise, nahmen an, dass die jüdischen Quellen die Wahrheit der griechischen Philosophie kodieren: Mit anderen Worten vermuteten sie, den Aspekt der Ewigkeit in der Bibel, in den rationalen und moralischen Wahrheiten, hinsichtlich der Struktur der Wirklichkeit, und des Zieles des Menschen- und Weltbestehens, finden zu können. Für die Anhänger der theosophischen Kabbala wurde das Ewige in der Heiligen Schrift in Richtung zur oberen Welt, in die Struktur der himmlischen Sephirot, mit ihren wechselseitigen Verknüpfungen dirigiert. In der prophetischen Kabbala spielte die Kombination der Zeichen in der Bibel sowie ihre ewige und uninformative Signifikanz eine wichtige Rolle.

Demgegenüber behauptet Weinreb, dass das Ewige in der Heiligen Schrift durch verschiedene Faktoren ausgedrückt wird. Der erste und wichtigste Faktor ist, dass diese Schriften eine Wirklichkeit beschreiben, die nicht einer Welt von Zeit und Raum, so wie wir sie durch unsere Sinne und die von ihnen erzeugten Gedanken kennen, entspricht, sondern sie schildern eine übergreifendere Wirklichkeit. Diese reichhaltigere Wirklichkeit hängt nicht nur von der Tatsache der Offenbarung Gottes in der Bibel ab, sondern von jedem Phänomen, welches in der Heiligen Schrift beschrieben wird. Deshalb kommt im Inneren der Erläuterungen Weinrebs über die Heilige Schrift eine bestimmte Weltanschauung zum Vorschein, die nach seiner Meinung tadellos mit der Wirklichkeit korrespondiert, die in den alten Schriften beschrieben wird. Wir können diese Weltsicht als eine mythische Wahrnehmung der Wirklichkeit bezeichnen.

Dementsprechend leitet sich Weinrebs Werk von der Integration dreier Faktoren ab: (a) Seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit; (b) seinem Verständnis der jüdischen Quellen; (c) dem Standort der Menschheit in der Wirklichkeit, basierend auf dem Wesen der Existenz, sowie der Heiligen Schrift.

Zuerst sollten wir Weinrebs mythische Wahrnehmung der Wirklichkeit definieren und kennzeichnen, so wie er sie in seinem Verständnis der Heiligen Schrift reflektiert. ‚Mythische Wahrnehmung' besagt, dass die Wirklichkeit, die über die Sinne aufgenommen wird, zur Gesamtheit des Lebens in der uns umgebenden Welt aus zwei Hauptgründen unvollständig und ungeeignet ist: (1) Alles in unserer Umwelt existiert im Göttlichen Kontext; (2) die Existenz von Objekten und Konzepten in unserer Welt ist in einem Zustand der wechselseitigen Beziehung, welcher sich von dem vor uns erscheinenden unterscheidet. Dieses trifft auch auf das Verhältnis zwischen dem Menschen und seiner Umgebung zu: Die externe Welt mit ihrer Fülle von Phänomenen, ist eine Reflexion der inneren Welt des Menschen, und beide stehen in einer Wechselbeziehung zueinander. Alle Geschöpfe, die außerhalb des Menschen existieren, sind Echos, Ausdrücke und Symbole von menschlichen Qualitäten, sowie mentalen und spirituellen Einstellungen. Die externe Welt ist vielmehr die menschliche innere Welt, die nach außen geöffnet worden ist, um sichtbar zu werden. Dasselbe ist für Personen zutreffend, die wir während unseres Lebens treffen. Folglich, um die Wirklichkeit in unterschiedlichen Kontexten als Ganzes zu begreifen, ist eine andere Art und Weise der Wissenschaft und des Einblicks erforderlich. Eine Person, welche die Wirklichkeit nicht in ihrem gesamten Kontext wahrnimmt, existiert nur in einem "halben Königreich". Um alle beinhalteten Phänomene, die von den Sinnen aufgedeckt werden, umfassend wahrnehmen zu können, müssen wir eine erfahrungsgemäße Herangehensweise wählen, und sie durch Offenbarung erreichen.

Um präziser zu sein, kann man sagen, dass Weinrebs Wahrnehmung der mythischen Wirklichkeit, und besonders seine grundlegende Annahme, der Notwendigkeit einer anderen Art Erfahrung und Wissen für den Menschen, ihn deutlich in die Gruppe derjenigen Denker positioniert, die keine rationalen und methodischen Gedanken, basierend auf den Sinnen, als das kardinale Hilfsmittel für das Begreifen von Wirklichkeit, akzeptieren. Wie Buber, A.D. Gordon und Rav Kook im jüdischen Denken, sowie anderer, die mit der Schule der "Philosophie des Lebens" gekennzeichnet werden, setzt Weinreb voraus, dass man die Wirklichkeit direkt durch Intuition und Offenbarung ohne die Notwendigkeit einer Vermittlung wahrnehmen kann. Jedoch, wie Gordon und Kook, bevorzugt Weinreb nicht vollständig das Instinktive über dem Rationalen; stattdessen versucht er, den Gedanken, der auf göttlicher Enthüllung basiert, zu integrieren, oder, wie er es nennt, - vertikales Denken - mit horizontalem Denken, was dem Konzept des 'praktischen Denkens' von Maimonides ähnlich ist. Jedoch, im Vergleich mit Kook, tendieren Weinrebs Gedanken nicht nur zu einer vereinheitlichenden Wahrnehmung der Wirklichkeit, kontrastiert zur Empfindung ihrer getrennten Bestandteile. Mittels des mythischen Einblickes stehen diese Teile genau so mit dem Verständnis in Zusammenhang .

Ähnlich zu den bereits erwähnten Denkern hebt Weinreb den Stellenwert der Menschlichkeit im Leben stark hervor, und, wie Buber und Kook, erklärt er, dass der Mensch durch das Studieren der Heiligen Schriften für ein umfassenderes und authentischeres Bewusstsein vorbereitet wird. Ungeachtet dessen, unterscheidet sich seine Vorstellung bezüglich des ewigen Wertes der Heiligen Schrift von den ihrigen, und seine Untersuchungen sind breitgefächerter. Daher kann Weinreb als philosophischer Kommentator der Jüdischen Schriften definiert werden.

Es ist wichtig für unser Lernziel, Weinrebs mythische Wahrnehmung von jener Bubers zu unterscheiden. Obgleich sie beide unterstellen, dass eine mythische, erfahrungsgemäße Wahrnehmung hin zur Wirklichkeit, Göttliches Licht vergieße, definiert Buber den Mythos nur für gültig, wenn er durch die Sinne als Göttliche Enthüllung wahrnehmbar ist. Weinreb macht andererseits geltend, dass mythische Erfahrung oder Wiedererkennung nicht nur von den Sinnen abhängt, sondern auch von Bildern, die in Visionen und Träumen erscheinen. Zum Beispiel, entsprechend der Mythos Definition Bubers, ist die Merkava-Vision Ezekiels nicht ein Mythos sondern eine übernatürliche Erfahrung, da die Tiere, die im Buch von Ezekiel beschrieben werden, in keiner bekannten Wirklichkeit existieren. Jedoch wird entsprechend Weinreb jedes Bild, das aus der Welt der Phänomene entnommen wird und zusätzliche Bedeutung trägt, ob es vor unseren körperlichen Augen oder vor unserem geistigen Auge erscheint, als mythische Wirklichkeit definiert. Nach seiner Meinung ist nur eine abstrakte Begegnung mit der Gottheit keine mythische Erfahrung. Dewegen ist Weinrebs mythische Wirklichkeit näher an einer symbolischen Vorstellung und schließt sie mit ein: Wenn die Tiere, die in Ezekiels Anblick der Merkava beschrieben werden, in einem metaphysischen Kontext wahrgenommen werden, sind sie beides, Symbol oder Ankündiger für diese metaphysische Wirklichkeit, welche symbolisiert oder angedeutet wird.

Für Weinreb geben die Mythen den Symbolen eine Signifikanz. In Weinrebs mythischer Wahrnehmung werden alle Wirklichkeiten, die durch die Sinne merklich sind, zu Symbolen, obwohl, im Gegensatz zu der theosophischen Kabbala, das Symbolisierte kein Teil der Welt der Sephirot darstellt. Das heißt in anderen Worten, der symbolische Dreh- und Angelpunkt ist nicht vertikal sondern horizontal.

Dem gemäß ist es ein und dasselbe, ob ein Mensch mit seinen eigenen Augen einen Mandelbaum sieht, oder von ihm träumt, oder ihn in seinem eigenen Gedächtnis, so wie Jeremiah, als eine Art interne Abbildung sieht, oder davon in den Heiligen Schriften liest: Jedes mal, wenn dieser bestimmte Baum in seinem göttlich-metaphysischen Kontext wahrgenommen wird, betritt der Mensch das mythische Reich. Der Mandelbaum erscheint in Jeremiahs Vision um zu verkünden, dass das Wort Gottes schnell erfüllt wird. Grammatisch ist es das Verb SH-K-D, das zu dieser Schlussfolgerung führt. Gemäß Buber ist dies eine Vision und kein Mythos, jedoch nach Weinrebs Meinung ist der Mandelbaum in der natürlichen Welt ein Ausdruck des metaphysischen Prinzips, dass der Wille Gottes schnell vollendet werden soll, und dass der Wille Gottes gut ist. Der Mandelbaum trägt seine eschatologische Bedeutung dadurch, dass es der erste Baum im Land Israel ist, der im Winter zu blühen beginnt. Der Mythos wird auf der Schnittstelle zwischen dem Vergänglichen und dem Ewigen erstellt. Er unterscheidet nicht, ob der Mandelbaum in einem Traum oder in den Morgenstunden erscheint. Was wichtig ist, wohnt in der zusätzlichen Bedeutung inne, die von dem Objekt wahrgenommen wird, und liegt nicht im Zustand seines Beobachters.

Weinrebs Wahrnehmung der mythischen Wirklichkeit macht das Objekt innerhalb der externen Welt zu einer 'Straßenkarte' mit Göttlicher Bedeutung und zu einer archetypischen Bezeugung für den menschlichen Geist.

 

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